Jan Wohlgemuth
Geschichte der deutschen Sprache
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1. Allgemeiner Längsschnitt vom Indogermanischen zum Neuhochdeutschen

1.1 Indogermanisch

Das Ur-Indogermanische ist schätzungsweise 5000 - 3000 v.Chr. entstanden, über sein Ursprungsgebiet gibt es keine Klarheit. Die Indogermanen sind aber vermutlich die Träger der Kurgan-Kultur (sog. "Schnurkeramiker"), die um 5000 v.Chr. nördlich des Kaspischen Meeres existierte. Anhand von Gemeinsamkeiten im Vokabular für bestimmte Pflanzen und technische Errungenschaften und Unterschieden im Vokabular für andere Vegetation und Errungenschaften läßt sich dieser Ursprung ungefähr zeitlich und geographisch eingrenzen. So sind die Bezeichnungen für verschiedene Bäume von Einzelsprache zu Einzelsprache sehr variat, was auf Steppenbewohner schließen läßt. Viele Bezeichnungen für Vieh, Saat, Ernte, Metalle, Pferd und Wagen stimmen weitgehend überein, so daß mit archäologischen Methoden ein ungefährer Zeitpunkt des Einsetzens dieser Kultur bestimmt werden konnte.

Direkte Belege dieser Sprache gibt es nicht, sie kann nur durch den Vergleich der später daraus entstandenen Sprachen erschlossen werden.

Die Untersuchung der Gewässernamen im heutigen Verbreitungsgebiet führt zu einer Untergruppe, die man alteuropäisch nennt. (Die andere Gruppe nennt man Indoiranisch). Diese Sprachen haben weitgehende Gemeinsamkeiten in den Namen für Gewässer (welche sich aus frühen Sprachstufen weitgehend unverändert bis in unsere Zeit erhalten haben), diese alteuropäische Hydronymie zeigt sich an Gewässernamen mit *al- (< *ol-/*el-) oder *sal- (Elbe, Aller, Ala, Elz, Als, Allia; Saale, Sella, Salisa, etc.) und einigen anderen idg. Wurzeln.

Das läßt darauf schließen, daß diese Namen nicht einzelsprachlichen Ursprungs sondern aus einer voreinzelsprachlichen Periode sind.

Ein anderes, früher gebräuchliches, Einteilungskriterium ist der Anlaut des Numerals 'hundert' (idg. *kmtom). Dies führt zur Aufteilung in Kentumsprachen und Šatemsprachen, je nachdem, ob es sich um einen Plosiv oder um einen Frikativ handelt. (das dt. [h] ist ein Produkt der 1. Lautverschiebung). Diese Aufteilung ist aber insofern unfruchtbar, als daß sie durch keine parallelen Erscheinungen gestützt wird, und somit nur extrem geringe Aussagekraft über die Struktur der durch sie zusammengefaßten Sprachen hat.

Die Kultur der Schnurkeramiker muß sich vom Schwarzen Meer aus über weite Teile Europas ausgebreitet haben und dabei andere Völker absorbiert haben, ohne daß deren Sprache(n) so viele Reflexe im Idg. hinterließen, wie beispielsweise im Industal oder im Mitelmeerraum.

Im Ostseeraum (Baltikum) entstand eine blühende Kultur der sog. Streitaxtleute, die ungefähr von 1500 bis 500 v.Chr. existierte. Sie muß großräumig homogen und mobil gewesen sein, da die sprachlichen Entwicklungen zum Germanischen hin im gesamten Gebiet nahezu uniform sind.

1.2 Vom Indogermanischen zum Germanischen

Die ältesten Germanischen Zeugnisse sind durch römische Autoren überliefert (Cäsar, Tacitus, Plinius d.Ä.). Wörter, die sie wiedergeben, zeigen einen Sprachzustand, der als Gemeingermanisch (auch: Urgermanisch) bezeichnet wird, in dem also alle Germanen eine gemeinsame Sprache hatten; eine Auseinanderentwicklung muß demnach erst später stattgefunden haben.

Originäre Zeugnisse sind Runeninschriften, u.a. der Helm von Negau (unklar, zwischen 300 v.Chr. und 0) und das goldene Horn von Gallehus (um 400 n.Chr.; Inschrift: Ek HlewagastiR HoltijaR horna tawido, 'Ich HlewagastiR aus Holt das Horn verfertigte'); oft stammen die Belege zwar aus Zeiten, als die germ. Stämme bereits unterschiedlich sprachen, jedoch ist der Sprachstand in den (meist kultischen) Inschriften archaischer und erlaubt so Rückschlüsse auf das Gemeingermanische.

Folgende Erscheinungen sind die hauptsächlichen Unterschiede zwischen Germanisch und Indogermanisch, bzw. kennzeichnen die Entwicklung zum Germanischen, die im zweiten bis ersten vorchristlichen Jahrtausend stattgefunden haben muß:

1.2.1 Lautverschiebung

(sog. 1. oder germanische Lautverschiebung) im System der Verschlußlaute:

a) [p, t, k] à [f, þ, c ] stimmloser Plosiv à stimmloser Frikativ
b) [b, d, g] à [p, t, k] stimmhafter Plosiv à stimmloser Plosiv
c) [bh, dh, gh]à [b, ð,g ] (<b d,g>) stimmhafter behauchter Plosiv à stimmhafter Frikativ

Beispiele: idg. *peku > ahd. fisk aber lat. piscis.

Diese Verschiebungen fanden nicht in sog. gedeckter Stellung statt, wenn entweder schon im Idg. dem zu verschiebenden Laut [s] vorausging (lat.: spuo, ahd.: spiwan) oder wenn im Idg. zwei Verschlußlaute aufeinanderfolgten (dann wurde nur der jeweils erste verschoben: lat.: noct, got.: naht).

Die stimmlosen Frikative wurden inlautend stimmhaft, wenn der Wortakzent im Idg. nicht auf dem Vokal davor lag: [s, f, Þ, c] à [b, ð,g, z] ([z] entsteht als neues Phonem). Diese Erscheinung wurde nach dem dän. Sprachwissenschaftler Karl Verner Vernersches Gesetz genannt. Grimm, der das Phänomen noch nicht erklären konnte, nannte es grammatischen Wechsel.

Anmerkung: Zum Vergleich wird hier Latein herangezogen, das die entspr. germ. Entwicklungen nicht mitgemacht hat und das synchron mit dem germ. und später dem ahd. existierte. Zu beachten ist dabei, daß Latein einer anderen Familie angehört und nicht in direkter Linie mit dem Germ. verwandt ist.

1.2.2 Festlegung des freien Wortakzents

(vgl. lat. Róma, Románus, Romanórum, Romanorúmque; immer vorletzte Silbe betont, nicht immer die selbe) auf die erste bedeutungstragende Silbe (= das erste Grundmorphem); sogenannte Initialbetonung; vermutlich aus einem nicht-idg. Substrat, mit dem die Germanen in Kontakt gekommen sein müssen.

1.2.3 Abschwächung der unbetonten Nebensilben

Sie vereinfachte das komplizierte idg. Flexionssystem erheblich, und förderte so den analytischen Sprachbau. So fallen beispielsweise von den 8 idg. Kasus der Ablativ, Lokativ und Instrumental mit dem Dativ zusammen, der Vokativ fällt zusammen mit dem Nominativ, so daß vier Kasus übrigbleiben. Der Dual schwindet allmählich.

Vergleiche hier auch die Fortsetzung dieser Entwicklung bei ahd. > mhd.

1.2.4 Zusammenfall von Vokalen

die Kurzvokale [a,o,e] fallen zusammen zu [a]; die Langvokale [a:, o:] fallen zusammen in [o:]; [ei] à [i:]

1.2.5 Ersetzung der sonantischen Liquide und Nasale

idg. [l, r, n, m] wurden zu germ. [ul, ur, un, um]. (idg. *pl no 'voll' > got. fulls).
Anmerkung: Laut IPA werden Sonanten mit einem daruntergestellten Punkt gekennzeichnet. Ich verwende aus Gründen der Darstellbarkeit Unterstriche.

1.2.6 Herausbildung konsonantischer (schwacher) Flexionen

1.2.6.1 Deklination:

im Kontrast zu idg. vokalischen (starken) Deklinationen (Substantiva und Adjektiva); z.B. n-Klasse.

1.2.6.2. Konjugation:

Herausbildung eines schwachen Präteritums, das ohne Ablaut, aber mit Dental-Suffix (aus enklitischem tun)gebildet wird; zugleich wird der Ablaut in den starken Formen ausgebaut und bekommt morphologische Bedeutung. Wegfall der synthetischen Tempora (z.B. Futur, Aorist), Neubildung analytischer Formen.

1.2.7 Syntax

Umstellung des Satzbauplans von SOV auf SVO In Resten z.B. im Hildebrandslied findet sich noch archaich-poetisch SOV: sunufatarungo iro saro rihtun; ansonsten ist die Syntax bereits umgestellt

1.3 Exkurs: Germanische Stämme und ihre Sprachen

Üblicherweise werden die Germanischen Stämme in drei große Gruppen unterteilt: Nord-, Ost- und Westgermanen. Die wichtigsten Völker der einzelnen Gruppen sind folgende (in Klammern: Sprachen der betr. Volksgruppen):

a) Nordgermanen: Wikinger, Normannen (altnordisch)
b) Ostgermanen(†): Goten, Vandalen, Gipiden, Rugier, Burgunden; (Gotisch, etc.; Rudimente als Lehnwörter erhalten, Krimgotisch noch im 18. Jh. belegt.)
c) Westgermanen:
c1) Nordseegermanen: Friesen (altfriesisch), Angeln (altenglisch), Sachsen (altsächsisch), Jüten; bei Plinius/Tacitus als Ingwäonen bezeichnet
c2) Weser-Rhein-Germanen: Franken; Istwäonen
c3) Elbgermanen: Langobarden (†), Sweben, Alemannen, Hermunduren (†), Baiern; Ermionen/Hermionen

Die Stämme unter c2 und c3 lassen sich auch als Südgermanen zusammenfassen. Die Regionalbezeichnungen können teilweise verwirren, wenn beispielsweise die Baiern als Elbgermanen klassifiziert werden. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß es sich erstens um Großräume handelt, und zweitens das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Stämme gemeint ist. Massenhafte Migrationsbewegungen unter den germanischen Stämmen, Stammesteilen und Stammesverbänden - die Völkerwanderung - führen einerseits zu einer Durchmischung, andererseits zu einer Aufspaltung in einzelne Stämme. So ist für die Jahrhunderte nach der Zeitenwende keine gemeinsame Germanische Sprache mehr anzusetzen, sondern bereits einzelne Stammessprachen.

1.4 Vom Germanischen zum Althochdeutschen

Ausgehend von den Elbgermanen fand eine Entwicklung statt, die für die Entstehung der deutschen Sprache entscheidend ist: die zweite (oder althochdeutsche) Lautverschiebung. (Eine Ausbreitung von S nach N wurde lange angenommen, jedoch ist (nach Schützeichel) diese Entwicklung an mehreren voneinander unabhängigen Orten sowohl im elbgermanischen wie auch im rheinisch-fränkischen Raum ausgegangen. Diese Lautverschiebung, besser: Lautverschiebungen, fanden jedoch nicht in allen Gebieten mit gleicher Ausprägung statt, so daß sich die Stammessprachen zwar gemeinsam weiter- dennoch aber auseinanderentwickelten.

Folgende elf Veränderungen charakterisieren den Übergang zum Althochdeutschen:

1.4.1 Lautverschiebung

1.4.1.1 Althochdeutsche Lautverschiebung (sog. 2. Lautverschiebung)

a) Tenuesverschiebung:

postvokalisch [p, t, k] à [ff, ss, hh (=x)] Plosiv à Doppelfrikativ
initial, vor Geminata, postkonsonantisch [p, t, k] à [pf, ts, kx] Plosiv à Affrikate

Keine Verschiebung bei [sp, st, sk, ft, ht, tr], z.B. opan > offan; watar > wazzar; tekan > zeihhan; plegan > pflegan; holta > holz; korna > kchorn
Anmerkung: Nach IPA werden Affrikaten durch einen Bogen verbunden. Dieser Bogen entfällt hier, da er kein ASCII-Zeichen ist.

b) Medienverschiebung

[b, d, g], [b, ð,g ] > [p, t, k], [b, t, g] z.B. dag > tag

c) Wandel [þ] > [d]; germ. *broþar > as. brothar / ahd. bruoder

1.4.1.2 Zu den Isoglossen der 2. Lautverschiebung

Diese Konsonantenverschiebung ist die tiefgreifendste Veränderung in der Geschichte der deutschen Sprache. Sie führt zu der Herausbildung der verschiedenen Mundarten des Deutschen. Die Isoglossen der diversen Veränderungen teilen den deutschen Sprachraum auf. Hauptlinie dabei ist die "maken-machen"-Linie, die die Nordgrenze der 2. Lautverschiebung markiert. Nördlich dieser Linie wird Niederdeutsch (bzw. wurde Altsächsisch) gesprochen, südlich davon Hochdeutsch bzw. Althochdeutsch. Diese Linie quert bei Benrath (nahe Düsseldorf) den Rhein. Deswegen wird sie Benrather Linie genannt.

Das Hochdeutsche wird durch eine weitere Hauptlinie unterteilt, welche die p>pf-Verschiebung anzeigt. Sie wird nach dem Ort der Rheinüberquerung Speyrer Linie genannt. Nördlich von ihr wird Mitteldeutsch gesprochen (Westmitteldeutsch pund, Ostmitteldeutsch fund), südlich von ihr Oberdeutsch (pfund).

Die k>kch-Verschiebung fand nur im südalemannischen Bereich statt. ("Kind-Kchind-Linie").

Diese Isoglossen spiegeln den Stand im 19. Jahrhundert wieder, als Wenker die Erhebungen für den Deutschen Sprachatlas machte. Die Linien haben sich inzwischen teilweise verlagert. Der Berlin-Schlenker in der Benrather Linie ist ein Indiz für starke hochdeutsche Einflüsse in Berlin aufgrund seiner kulturellen und politischen Bedeutung.

1.4.2 Westgermanische Konsonantengemination

Verdopplung von Konsonanten vor [j], seltener [w, l, r]. got. bidjan ~ ahd. bitten; germ. *kunja > got. kuni / ahd. kunni ('Sippe, Familie')

1.4.3 Monophthongierung von germ. ai und ou

[ai] > [e:] vor [r, h, w]; [ou] > [o:] vor Dentalen [d, t, s, z, n, r, l] und germ. [h] daher ahd. ouga, ora aber got. augo, auso

dadurch entsteht ein zweites [e:] und [o:], das jeweils dem alten germ. [e:] bzw. [o:] im Phonemsystem entgegen steht. Deshalb:

1.4.4 Diphthongierung von germ. [e:] und [o:]

[e:] > [ie], [o:] > [uo]; z.B. got./as. her, ahd. hier/hiar; as. brothar / ahd. bruoder; lat. tegula wurde zum ahd. Lehnwort ziagal.
Anmerkung: Nach IPA werden Dipththonge durch einen Bogen verbunden. Dieser Bogen entfällt hier, da er kein ASCII-Zeichen ist.

1.4.5 i-Umlaut

[i, i:, j] in der Folgesilbe bedingen folgende Lautveränderungen:

a > e (ä) (gast - gesti)
a: > æ (ahd. mâri mhd. mære 'Erzählung')
u > ü (ahd. kussen mhd. küssen)
u: > iu [y:] (ahd. hlûten mhd. liuten 'läuten')
o: > œ [œ:] (ahd. skôni mhd. schœne )
ou > öu (ahd. loufit mhd. löufet)
uo > üe (ahd. guoti mhd. güete)

Hier zeigen sich zwei unterschiedliche Schichten des Umlauts. Der erste Typ, der sog. Primärumlaut, in a > e, der sich auch in der ahd. Orthographie niederschlägt, und den anderen, der erst in der mhd. Schreibung Eingang findet. Dies legt nahe, daß die Umlauterscheinungen zeitlich gestaffelt eintraten. Solange die Bedeutungsunterscheidung noch durch die Endsilben gewährleistet war, konnten daher Formen wie sconi (gesprochen scœni) und scono noch gleich geschrieben werden. (Im mhd. ändert sich das durch die Endsilbenabschwächung...)

1.4.6 Kombinatorischer Lautwandel

im gesamten Westgerm.: (sog. Brechung)

germ. e > i vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. i > e vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. u, idg. [l, r, n, m] und germ. [ul, ur, un, um] > o vor a,e,o
germ. eu > io vor a,e,o; iu vor i,j,u

Das zeigt sich im ahd. Flexionssystem: z.B. nimu, nimis aber nement (nehme, nimmst, sie nehmen)

1.4.7 Nasalschwund mit Ersatzdehnung

germ. *þanhto > dâhta ('dachte'); *þunhto > dûhta ('dünkte'), *sinh- > sîhan ('seihen').

1.4.8 Entwicklung der Artikel

aus Demonstrativa, da die Kasuskennzeichnung uneindeutig wurde (vgl. ahd. > mhd.).

1.4.9 Verbflexion

Herausbildung eines analytischen Passivs und Futurs.

1.4.10 Übergang zur Schriftlichkeit

Erstmals wird in ahd. Zeit auch das Deutsche geschrieben. Zuvor war ausschließlich Latein Schriftsprache. Neben kirchlichen entstehen auch literarische Texte.

1.4.11 Literatur

Ablösung des germ. Stabreims durch den Endreim (aus der lat. Dichtung).

1.5 Vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen

Genauso wenig, wie es ein einheitliches Althochdeutsch gab, gab es ein Mittelhochdeutsch als standardisierte überregionale Verkehrs- und Schriftsprache. Dennoch bestanden Gemeinsamkeiten, die, abstrahiert, zu einem angenommenen Mittelhochdeutschen rekonstruiert werden.
Folgende Erscheinungen kennzeichnen den Unterschied zwischen ahd. und mhd.:

1.5.1 Die Abschwächung unbetonter Nebensilben

ist in dieser Phase die wichtigste Veränderung, denn sie hat großen Einfluß auf die Morphologie und die Phonologie. Zum einen verringert sich das Phoneminventar in den Nebentonsilben, zum anderen wird das Flexions- und Derivationssystem vereinfacht bzw. radikal umgestellt:

a) Zusammenfall der phonologisch konditionierten Vorsilben bi-, ga- ~ gi-, za- ~ zi- ~ ze-, ur- ~ ir-, fur- ~ fir zu be-, ge-, ze-, er- und ver-, in denen der sog. Indifferenzvokal [e] steht. (Anmerkung.: hier müßte das IPA-Zeichen "umgedrehtes e" stehen, das aber kein ASCII-Zeichen ist.)
b) Zusammenfall der verschiedenen Flexionsendungen: ahd. leitis, leitês, leitos, leitîs (2.SG. präs, konj.präs., prät., konj.prät.) werden alle zu leites(t). Ähnlich ist es in der Deklination.
c) Wegfall unbetonter Mittelsilben: ahd. hêriro > mhd. herre. ahd. salida > mhd. sQ lde 'Heil, Glück'. (hier zeigt sich: erst Umlaut, dann Wegfall!)
d) Es wurden neue Wortbildungsmittel notwendig: im ahd. konnte ein Adj. Durch substantiviert werden. Seit dem Mhd. ist dazu eine Nachsilbe notwendig, wie etwa -heit, -igkeit > -keit, -ung.

1.5.2 Der Umlaut als Pluralkennzeichen

ist davon ebenfalls betroffen: Während er im ahd. rein phonologisch bedingt ist, bekommt er im mhd. eine Funktion in der Morphologie, um den Wegfall der alten Endungen auszugleichen. (bruoder - brüeder)

1.5.3 Syntaktische Umwälzungen

Durch den Endsilbenverfall sind beispielsweise das verstärkte Hinzutreten von Personalpronomina und Artikeln (aus Hilfskonstruktionen mit Demonstrativa und Numerals): ahd. hilfu > mhd. ich hilfe, ahd. zungun, zunguono, zungom, zungun > mhd. die zungen, der zungen, den zungen, die zungen. (Bei Fem.Pl. völliger Zusammenfall) notwendig. Der analytische Sprachbau wird weiter verstärkt.

1.5.4 Palatalisierung von [s] > [ò ] / _K

a) mit Wegfall von K [sk] > [ò] (<sk> > <sch>) scriban > schriben
b) ohne Wegfall von K [sl] > [òl] (<sl> > <sch>) slange > schlange
[sm] > [òm] (<sm> > <schm>) smal > schmal
[sn] > [òn] (<sn> > <schn>) snel > schnell
[sw] > [òw] (<sw> > <schw>) geswinde > geschwinde
[sp] > [òp] (<sp> bleibt <sp>) spil
[st] > [òt] (<st> bleibt <st>) stellen

1.5.5 Auslautverhärtung

auslautende [b,d,g] werden zu [p,t,k] (Fortes > Lenes; [+sth.] > [-sth.]). Im mhd. spiegelt sich das in der Schrift wieder, diese Konsequenz läßt die gegenwärtige Orthographie leider vermissen.

1.6 Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen

Der Übergang zum Neuhochdeutschen ist neben einem weiteren Ausbau des analytischen Sprachbaus geprägt von mehreren, z.T. gegenläufigen Entwicklungen im Vokalismus:

1.6.1 Monophthongierung

der Diphthonge ie, uo, üe > i, u, ü (liebe guote brüeder > liebe gute Brüder)

1.6.2 Diphthongierung

der Langvokale î, ü [y:], û > ei, eu, au (mîn niuwes hûs > mein neues Haus)

1.6.3 Senkung

a) der hohen Vokale: sunne > günnen > gönnen, hüle > Höhle, sunne > Sonne, sun > Sohn

b) der Diphthonge ei, öu, ou: /ei/ > /ai/, /öu/ > /eu/, /ou/ > /au/; weinen > weinen, fröude > Freude, boum > Baum

1.6.4 Hebung

der tiefen Vokale: mâne > Mond, âne > ohne

1.6.5 Rundung

zwelf > zwölf, lewe > Löwe, finf > fünf,

1.6.6 Entrundung

küssen > Kissen, nörz > Nerz

1.6.7 Kürzung

von Langvokalen in geschlossener Silbe: hêrlih > herrlich, brâhte > brachte

1.6.8 Dehnung

von Kurzvokalen in offener Silbe: geben > geben, bote > Bote, klagen > klagen. Dadurch verschieben sich die Silbengrenzen.

 

Die Erscheinungen der Rundung, Entrundung, Senkung der Monophthonge und Hebung sind dabei nicht systematisch sondern wortweise vorgegangen.

1.7 Entwicklungstendenzen im Deutsch des 20. Jahrhunderts

Soweit sich Entwicklungen der Gegenwartssprache quasi "von innen" feststellen lassen, so sind dies zumeist Tendenzen zu bestimmten Sprachmitteln, die bereits vorhanden aber nicht so verbreitet waren, oder Weiterentwicklungen in älteren Sprachstufen bereits latent vorhandener Erscheinungen.

Folgende Phänomene werden als solche Tendenzen gedeutet:

1.7.1 Mehrgliedrige Komposita

Während das Mhd. nur zweigliedrige Komposita kannte, kamen bereits im frühnhd. dreigliedrige Bildungen auf. Inzwischen sind vier- oder fünfgliedrige Bildungen nicht mehr ungewöhnlich. (Oberstabsfeldwebel, Bundesausbildungsförderungsgesetz).

1.7.2 Substantivierungen

Vor allem in der Behördensprache werden verstärkt unpersönliche, abstrakte Formeln verwendet, die die verbalen Satzglieder zugunsten nominaler Satzglieder sinnentleert: Es besteht ein Muß zur Lösung... (sog. Nominalstil). Bildung von Funktionsverbgefügen wie zur Entscheidung bringen.

1.7.3 Syntax

Die durchschnittliche Länge von Satzgefügen sinkt. Die neuhochdeutsche Satzklammer wird oft durchbrochen.

1.7.4 Verben

Der Konjunktiv wird häufig durch umschreibende Bildungen (mit würde) ersetzt, oft tritt der Konjunktiv II an die Stelle des Konjunktiv I, da er morphologisch eindeutiger markiert ist. Die starken Verben werden zu einer unproduktiven Gruppe, einige starke Formen werden durch schwache Neubildungen ersetzt (saugte für sog, haute für hieb). Eine Zunahme von Passivformen wurde ebenfalls beobachtet.

1.7.5 Substantive

Das Genitivobjekt wird oft vermieden, der Genitiv häuft sich andererseits im Nominalstil. Das -s als Genitivkennzeichen von Eigennamen schwindet. Der Dativ als Kasus des direkten Objekts wird häufig durch den Akkusativ ersetzt. (vgl. Tendenz zu Passivformen; nur Verben, die einen Akkusativ nach sich ziehen, können ins Passiv gesetzt werden).

1.7.6 Orthographie

Tendenzen zur Vereinfachung und Vereinheitlichung. (Siehe Kap. 3.3.2).

1.7.7 Anglizismen

Die englische Sprache hat (durch ihre Bedeutung als Weltsprache) einen großen Einfluß auf das Deutsche. Nicht nur in die Umgangssprache, sondern auch in die Schriftsprache gehen verstärkt Wörter englischen Ursprungs ein. Man betrachte nur die Bereiche Multimedia, Computer, Kommunikation, Busineß.

1.8 Exkurs: Das Endonym "deutsch"

Das Wort deutsch ist erstmals - allerdings in lateinischer Form - belegt in einem Bericht des Nuntius Georg von Ostia an Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die 786 in England stattfanden: Die dort gefaßten Beschlüsse sollten sowohl in Latein als auch in der Volkssprache (latine et theodisce) verlesen werden, damit jeder sie verstehen könne.

Das lat. theodiscus (als gelehrtes Wort für gentilis, 'völkisch, heidnisch') beruht auf dem germ. *Þeudô 'Volk' + Adjektivsuffix -iska (nhd. -isch) und bezeichnet zunächst nur die germanische Volkssprache im Gegensatz zum Latein. Bis weit in die ahd. Zeit hinein wird es nur selten und ausschließlich auf die Sprache angewendet. Erst um 1090 wird diutisc im Annolied auf Volk, Land und Sprache angewandt. Das vorher gebräuchliche frencisg wurde durch die romanischen Franken des Westreiches beansprucht und war somit uneindeutig, was zur vermehrten Verwendung von diutisc beitrug.

1.9 Hochdeutsch als Ausgleichssprache

Erstmals kann beim Nhd. auch wirklich von einer deutschen Sprache die Rede sein. Dabei ist das Neuhochdeutsche aber nicht ein hervorgehobener Dialekt, sondern eine Ausgleichssprache, die aus vielen Varietäten hervorgegangen ist, und die auch Eigenschaften verschiedener Dialekte in sich vereint.

Das Entstehen einer solchen überregionalen Ausgleichssprache wurde ausgelöst und gefördert durch verschiedene kulturelle und politische Faktoren. Die Erfindung des Buchdrucks, die Einführung der deutschsprachigen Kirchenliturgie, die Reformation, die Hanse (welche allerdings das Niederdeutsche als Verkehrssprache hatte) und vieles mehr sind hier beispielsweise zu erwähnen.

1.10 Anmerkung zur Periodisierung der dt. Sprachgeschichte

Die zeitliche Abgrenzung der einzelnen Sprachstufen ist umstritten und uneinheitlich. Es gibt viele plausible Ansätze dazu, die entweder an innersprachlichen Kriterien (z.B. Lautwandel) oder außersprachlichen Kriterien (literarische bzw. kulturelle Epochen, Ereignisse) festmachen, wann ein Übergang von einer Sprachstufe zur nächsten vollzogen wurde.

So vielfältig wie die Periodisierungsansätze sind auch die Bezeichnungen der Sprachstufen und deren Anzahl. Ich halte mich hier an folgende grobe Gliederung:

 

Sprachstufe

Zeitraum

Kriterium

Indogermanisch

ca. 5000 ~ 1500 v. Chr.

 

Gemeingermanisch

ca. 1500 v. Chr. ~ 500 n. Chr.

1. Lautverschiebung setzt ein

Altochdeutsch

ca. 500 ~ 1050

2. Lautverschiebung setzt ein

Mittelhochdeutsch

ca. 1050 ~ 1350

Vokalentwicklung: Nebensilbenabschwächung

Frühneuhochdeutsch

ca. 1350 ~ 1650

Vokalentwicklung: Diphthongierung schließt ab; soziokulturelle Kriterien

Neuhochdeutsch

seit ca. 1650 ~

soziokulturelle Kriterien




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Version 1
Zuletzt geändert: 18. April 1998
Erstmals erstellt: 18. April 1998


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