Jan Wohlgemuth
Grammatische Kategorien und ihre Ausprägungen im Tok Pisin von Papua-Neuguinea
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4. Gründe für den grammatischen Status quo im Tok Pisin

Wie wir im vorangegangenen Kapitel bereits gesehen haben, werden die grammatischen Kategorien teils morphologisch teils lexikalisch ausgedrückt, und es gibt eine Reihe von Faktoren, welche die Entwicklung der Grammatik des Tok Pisin beeinflußt haben.
Die drei hauptsächlichen Faktoren sind:

Es ist ein unumstrittener Vorgang in der Entstehung von Pidgins, daß neben dem Vokabular auch Kategorien aus den beteiligten Sprachen übernommen werden. Das Tok Pisin ist weit mehr als ein simplifiziertes Englisch, weil es Kategorien besitzt, die das Englische nicht hat (z.B. Objektfokus; Differenzierung von inklusivem und exklusivem wir).

Dennoch nimmt das entstehende Pidgin nicht alle Kategorien aus allen parent languages auf, sondern beschränkt sich zumeist auf wenige, die von den Sprechern anscheinend als die wichtigsten (unerläßlichen) angesehen werden. Die exaktere Differenzierung der Personalpronomina (vgl. Kap. 3.4) ist hierfür nur ein Beispiel.

Dennoch sind die Sprecher des Pidgins um sprachliche Ökonomie bemüht, da das Pidgin für alle beteiligten Parteien ohne großen kommunikativen Aufwand leicht verstehbar sein soll. Redundante Markierungen (z.B. Kongruenz von Artikel, Adjektiv und Substantiv) werden weggelassen, um den anderssprachigen Gesprächspartnern das Verstehen zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen.

Wenn beispielsweise durch ein Signalwort wie gestern bereits eindeutig gemacht ist, daß die Satzaussage in der Vergangenheit liegt, so ist die Markierung der Vergangenheit am Verb redundant; Das Subjekt und ggf. das Objekt des Satzes werden i.d.R. durch deiktische Ausdrücke oder Gesten bestimmt, die Personalmarkierung am Verb ist also ebenfalls redundant; es kann also auch eine unflektierte Form des Verbs verwandt werden.

Auch der Wortschatz ist sehr stark auf den Bereich beschränkt, in dem die verschiedensprachigen Gruppen in Kontakt geraten, z.B. Handel, Walfang. Für viele Gegenstände und Sachverhalte, die außerhalb dieses Bereichs liegen, und auf die daher seltener referiert wird, werden Umschreibungen benötigt, die insofern ökonomischer sind, als daß sie ad hoc gebildet werden können, und man nicht eine neue Vokabel einführen muß, die ja ggf. auch erst umschrieben werden muß, um sie zu erklären.

In dem Moment aber, in dem das Pidgin von der Kontaktsprache in einem Lebensbereich ausgeweitet wird zu einer Sprache des Alltagslebens, sind die vereinfachten Mittel des Pidgins nicht mehr ausreichend. Es muß ein Ausbau des gesamten Systems stattfinden. Dabei werden aber nicht zwingend grammatische Kategorien und Markierungen sowie Wörter aus den Spendersprachen übernommen, sondern oft eigene Wege des Ausbaus gefunden. So werden Wortbildungs- und Ableitungsmuster geschaffen, die geradezu universell bei allen Kreolsprachen zu finden sind, wie beispielsweise Reduplikation oder Konversion (auch Null-Ableitung genannt). Bei letzterer werden Lexeme in ihrer Funktion erweitert (Wortartenwechsel ohne jegliche derivative Affigierung) und in verschiedenen syntaktischen Positionen verwendet, in denen sie in der Spendersprache nicht stehen konnten (vgl. HELLINGER, S. 116f), z.B. antap (< engl. on top), das 'Oberfläche', 'oben' oder 'hoch' bedeuten kann.

Darüber hinaus werden unabhängige Lexeme grammatikalisiert, sie verlieren ihre Bedeutung zugunsten einer grammatischen Funktion. So wurde beispielsweise das (phonologisch reduzierte) Personalporonomen i (< he) zum Prädikatsmarker, der zwingend vor dem Prädikat bei allen Personen außer 1SG, 2SG und 1PL(incl) stehen muß. (Vgl. ROMAINE, S. 39). Ebenso ist auch die Entstehung des Zukunftsmarkers bai zu erklären. (Vgl. Kap. 3.1)

Bereits ein gut ausgebautes Pidgin verfügt über viele dieser Merkmale, jedoch ist erst die neu aufgebaute Vielfalt, die auch eine stilistische Variation zuläßt, ein Indiz dafür, daß die Sprache zu einem Kreol geworden ist. (Vgl. hierzu: ROMAINE, S. 154ff; Hock, S. 524f; HELLINGER, S. 113ff).

5. Schlußbemerkung

Wir haben gesehen, daß Tok Pisin weit mehr ist, als ein stark korrumpiertes, mit einigen Papua-Wörtern durchsetztes Englisch, das als Kontaktsprache zwischen Kolonialherren und Ureinwohnern Papua-Neuguineas verwendet wird. Es ist Muttersprache einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Sprechern, es ist eine der Staatssprachen Papua-Neuguineas, und es besitzt eine differenzierte Grammatik, die allen Anforderungen an eine funktionierende Alltagssprache gerecht wird.

Und diese Grammatik hat sich in den letzten rd. 120 Jahren gemäß den Anforderungen, die an das Tok Pisin gestellt wurden entwickelt. Es war zunächst geprägt von dem Streben nach Verstehbarkeit und größtmöglicher kommunikativer Ökonomie, wurde aber in seiner weiteren Entwicklung, besonders nach der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas (1975) immer mehr zur allgemeinen Verkehrssprache: es wurde zu einem Kreol.

Trotz eines Aufbaus verschiedener Kategorien und Ausdrucksformen ist dem Tok Pisin immer noch anzumerken, daß es auf Sprachökonomie ausgerichtet war und ist. Eine redundante Mehrfachmarkierung gibt es nicht, bzw. nur als stilistisches Mittel. Sachverhalte, die aus dem Kontext hervorgehen, werden ebenfalls nicht wiederholt markiert.

Kurz gesagt: Tok Pisin ist trotz aller vordergründiger "Formenarmut” eine selbständige, voll funktionierende Sprache.


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