Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Allgemeine Sprachwissenschaft
Hauptseminar: Grammatiken außerindoeuropäischer Sprachen - Dyirbal
Prof. Dr. C.-P. HERBERMANN
Sommersemester 2000, Wintersemester 2001
Hausarbeit zum Thema
Autor: JAN WOHLGEMUTH
Zwei Semester lang beschäftigte ich mich im Rahmen eines Hauptseminars "Grammatik außerindoeuropäischer Sprachen: Dyirbal" mit einer der wohl bekanntesten Sprachen Australiens. Dabei standen vor allem die Besonderheiten der Grammatik dieser Sprache im Vordergrund — wie beispielsweise der Ergativ, die Nominalklassen und die sogenannte "Schwiegermuttersprache", Besonderheiten, die teilweise erstmals anhand des Dyirbal ausführlich beschrieben wurden, und zwar durch Robert "Bob" M.W. DIXON in seiner 1972 veröffentlichten Dissertation The Dyirbal Language of North Queensland (Univ. London, 1968), durch die sowohl das Phänomen Ergativität wie auch die Sprache Dyirbal in linguistischen Kreisen einen hohen Bekanntheitsgrad erreichten.
Seitdem gebraucht man in Beispielen zur Ergativität gerne eine Formulierung wie: "Im Dyirbal wird dazu beispielsweise die folgende Konstruktion verwendet ..."
Mit dieser Arbeit möchte ich beleuchten, ob dieses Präsens überhaupt noch gerechtfertigt ist, und darstellen, welche Entwicklung das Dyirbal mitmachte, seit DIXON es vor etwas mehr als dreißig Jahren erstmals beschrieben hat, und welche gesellschaftlichen Faktoren die Ursachen dafür sind bzw. waren. Stützen möchte ich mich dabei auf die Untersuchung von Annette SCHMIDT (veröffentlicht als SCHMIDT 1985a und b) und auf einige Aussagen von anderer Seite, die ein Bild auf die Entwicklung seit 1985 werfen können. Unter Verwendung einiger Arbeiten, welche die generellen Mechanismen des Sprachtods beschreiben, möchte ich dann versuchen, das Sterben des Dyirbal und die Gründe dafür in einen größeren Kontext einzuordnen. Zunächst jedoch ein allgemeiner Blick auf das Dyirbal, so wie es (vor allem von DIXON (1972)) dargestellt wird, und auf das augenfälligste Symptom des Niedergangs dieser Sprache — ihre stark rückläufigen Sprecherzahlen.
Unter der Bezeichnung Dyirbal (in der Literatur auch Jirrbal, Djirubal oder Dyirrbal geschrieben)(1) wird von Linguisten in der Regel ein Kontinuum von Dialekten zusammenfasst, dessen größter und dominanter Dialekt (zur Unterscheidung oft Jirrbal geschrieben) namengebend für die Gesamtheit ist.(2) Die anderen Dialekte heißen: Giramay, Mamu, Dyiru, Gulay und Ngadyan (vgl. DIXON (1972), S. 24). Sie alle werden bzw. wurden im Nordosten des Australischen Bundesstaats Queensland, in der südlich von Cairns gelegenen Region zwischen Innisfail und Ravenshoe, gesprochen. Es gibt keine Bezeichnung für die Gesamtheit der Stämme, die diese Sprache(n) sprechen, vielmehr nennen sich die Gruppen nach ihren einzelnen Dialekten Dyirbalan, Giramaygan, etc (vgl. a.a.O., S. 23f.).
Eine Analyse des Alters bestimmter geologischer Befunde (Spuren von Vulkanismus; Änderungen im Küstenverlauf durch eiszeitlich bedingte Schwankungen des Meeresspiegels) mit Vorgängen in tradierten Mythen legen nahe, dass die oben genannten Stämme bereits seit mehr als 10.000 Jahren in der Region ansässig sein müssen (vgl. a.a.O., S. 29). Die o.a. und einige benachbarte Dialekte werden zu den Dyirbalischen Sprachen als Untergruppe der Pama-Nyunga-Sprachen gezählt (vgl. YALLOP, S. 47 u. 52) — dieser Sprachfamilie gehört der überwiegende Teil der Aboriginal-Sprachen Australiens an, und sie erstreckt sich von der Westküste Australiens bis Cape York im Nordosten des Kontinents (vgl. a.a.O., S. 42).
Das Dyirbal wird von DIXON als eine "typische australische Sprache" (DIXON (1972), S. 22) charakterisiert. Es hat ein kleines Phoneminventar(3), ein System von vier am Pronomen bzw. Demonstrativum markieren Substantivklassen (Genera), drei Numeri (Singular, Dual, Plural), ein ausgeprägtes Kasussystem mit Split-Ergativität, ein reiches System von derivationalen und aspektuellen Verbalsuffixen, zwei Tempora (Futur und Nicht-Futur), sowie eine morphologisch markierte Differenzierung von transitiven und intransitiven Verben (vgl. a.a.O., S. 22f.). Eine nennenswerte sprachsoziologische Besonderheit des Dyirbal (und einiger anderer Aboriginial-Sprachen) ist die von DIXONs Hauptinformantin CHLOE GRANT so genannte "'mother-in-law-language'" (DIXON (1991), S. 191) — im Prinzip ein paralleles (generalisierendes) Lexikon bei gleicher Phonologie und Grammatik, das zur Verschleierung des Gesagten in der Gegenwart von bestimmten Personen dient, die für den Sprecher tabu sind. Auf Dyirbal heißt das System der Alltagssprache Guwal, die Vermeidungssprache nennt sich Dyaluy (vgl. DIXON (1972), S. 32). Nach DIXON ist die "Schwiegermuttersprache" bereits seit den 1930er Jahren nicht mehr in Verwendung (vgl. DIXON (1983); S. 168), ein erstes Anzeichen für den Verlust der traditionellen Kultur und Sprache.
Die Sprecherzahlen des Dyirbal haben sich seit dem Kontakt mit weißen Siedlern vor rund 150 Jahren stark verringert, wobei die Schätzungen in den einschlägigen Quellen teilweise stark voneinander abweichen. Vor dem Erstkontakt (1848) hatten die einzelnen Stämme in der Region vermutlich jeweils bis zu 500 Mitglieder (vgl. DIXON (1972), S.34). Sie sind jedoch innerhalb nur weniger Jahre nach der ersten Besiedlung (1864) stark dezimiert worden:
"There must have been at least 5,000 people speaking dialects of Dyirbal during the first part of the 19th century [...]. Many Aborigines died from catching European diseases [...] to which they had no immunity. And many were shot as they tried to fight - with spears and boomerangs against guns - for their heritage. There was a native police consisting of Aborigines brought in from southern Queensland, armed with guns and commanded by white officers to seek out local Aborigines and shoot on sight. [...] The Aboriginal population of the Cairns rain forest region was reduced to perhaps 10 percent of its precontact level within 50 years of the advent of Europeans.”(DIXON (1991), S. 186).
Nach DIXON (1972; S. 37) waren es um 1970 nur noch rund 30 Sprecher des Dyirbal, etwa 10 Sprecher des Giramay, je 5 oder 6 für Mamu und Ngadyan und jeweils 1 oder 2 für Dyiru und Gulay.
In verschiedenen Auflagen des Ethnologue wird das gegenwärtige Dyirbal als "nearly extinct" mit einer Zahl von 40-50 Sprechern angegeben und mit der vagen Quellenangabe "(1983 R.M.W. DIXON)" gekennzeichnet(4) (vgl. GRIMES (1984), S. 559 und GRIMES (1996), S. 818).
Die jüngsten in der Literatur verfügbaren Zahlen lieferte DIXON 1997:
"Thirty years later [= 1993, d.A.] only those over about sixty-five can speak the language — there are just half-a-dozen of them.”(DIXON (1997), S. 105).
Diese Angabe scheint auch derzeit noch aktuell zu sein. Auf Anfrage teilte DIXON für Dyirbal und Giramay mit: "nearly extinct, about 6 speakers now" (DIXON, pers. Korrespondenz v. 07. Mai 2001), Mamu und die anderen Dialekte bezeichnete er schlicht als "gone" (ebd.).
In den o.a. Sprecherzahlen sieht man also einen starken Rückgang, ein Phänomen, das allgemein als das Sterben einer Sprache bezeichnet wird. In der Einleitung zu seinem Aufsatz von 1991 beschreibt DIXON den rapiden Untergang des Dyirbal wie folgt:
"In 1963, when I began work on Dyirbal, there were several score fluent speakers, including a fair number of children. The language appeared to be in a reasonably healthy state. [...] I have worked fairly steadily on [Dyirbal] for just over a quarter of a century. During this period, I have seen the language decline from a state in which there was an abundance of speakers who could supply the information I sought to one in which there is just one good consultant left for each of three dialects, with no one to go for a second opinion. The language has died at a faster rate than I could record it.”(DIXON (1991), S. 183; Hervorhebungen durch mich.).
Auch Annette SCHMIDT hat in ihrer Untersuchung "Young people's Dyirbal. An example of language death from Australia" eine eindeutige Agonie der Sprache konstatiert. Neben SCHMIDT haben sich aber auch andere Autoren, darunter natürlich auch wiederholt DIXON selbst, zum Niedergang der Sprache geäußert. Wie sich dieser im Detail darstellt, wird Gegenstand des Kapitels 3 sein.
Annette SCHMIDT untersuchte im Rahmen ihrer Magisterarbeit die Situation des Dyirbal im ersten Halbjahr 1982, 15 Jahre nachdem DIXON die Sprache erstmals beschrieben hatte, also gerade einmal eine halbe Generation später. Vor dem Hintergrund der DIXON'schen Grammatik beschrieb SCHMIDT, inwiefern das Dyirbal der jüngeren Generation (kurz: YD) vom traditionellen Dyirbal (kurz: TD) abweicht.
SCHMIDTs Beobachtungen entspringen teils einer offenen direkten Befragung, teils "blinden" Studien. Für erstere nahm sie informelle Gespräche auf und führte Verstehenstests zum TD durch, in denen sie auch mit absichtlichen Kontrollfehlern an vermuteten Schwachstellen arbeitete. Darüber hinaus befragte SCHMIDT die Jugendlichen zu Sprachverwendung und Sprachprestige von Dyirbal und Englisch. Zur Absicherung ihrer Befunde und zur Vermeidung des "Beobachter-Effekts" stellte SCHMIDT zudem informelle Nachforschungen an, in denen sie unbemerkt bzw. außerhalb der Befragungssituation den Sprachgebrauch der jungen Dyirbalan untersuchte (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 7).
Referenzgruppe sind die 15- bis 35-jährigen Sprecher des Dyirbal, nach Schätzung SCHMIDTs im Jahre 1982 ungefähr 20 Personen, von denen sich 12 bereit erklärten, an den Tests und Interviews teilzunehmen (vgl. a.a.O., S. 44). Da die "Halbsprecher" eine sehr negative Einstellung zu ihrer Sprachvarietät haben, versuchten sie, SCHMIDT zu "guten, traditionellen Sprechern" zu schicken. Ihr eigenes, vereinfachtes Dyirbal hielten sie für einer linguistischen Untersuchung unwürdig (vgl. a.a.O., S. 7). Sobald sich die jugendlichen Sprecher beobachtet fühlten, wurde nicht mehr unbefangen gesprochen, sondern entweder nur noch Englisch oder ein gekünsteltes, "korrekteres" Dyirbal, das mit mehr intendierter Sorgfalt gesprochen wurde (vgl. ebd.).
Durchgeführt wurde die Untersuchung durch Annette SCHMIDT von Januar bis Juni 1982 in der Jambun Aboriginal Society in der Gemeinde Murray Upper. Dies ist die letzte Sprechergemeinschaft, in der es (1982) noch eine nennenswerte Zahl von Sprechern des Dyirbal gab: In Murray Upper lebten zur Zeit der Untersuchung ca. 250 Weiße, 15 Torres Strait Islander und 110 Aboriginals verschiedener Herkunft (vgl. a.a.O., SS. 6 u. 13). Die in Kapitel 3.2 dargestellte soziale Situation und die nachfolgend im übrigen Kapitel 3 aufgeführten sprachlichen Gegebenheiten beziehen sich (sofern nicht anders angegeben) immer auf diesen Untersuchungszeitraum und -ort.
Seit der Einrichtung der Jambun Aboriginal Society 1977 durch die Regierung des Bundesstaats Queensland ist die Interaktion zwischen Weißen und Aboriginals fast ausschließlich auf offizielle Kontexte wie Schule, Einkauf und Arbeit beschränkt (vgl. a.a.O., S. 13). Die (Selbst)Isolation der Aboriginals wird auch in "gemischten" Kontexten (wie z.B. in der Schule) aufrecht erhalten. Wenn möglich, wird der Kontakt zu Weißen weitestgehend vermieden (vgl. a.a.O. S. 13f.).
Von Seiten der Weißen wird ein starker sprachlicher Druck auf die Aboriginals ausgeübt: Viele Arbeitgeber sanktionieren den Dyirbal-Gebrauch am Arbeitsplatz, es gibt ausschließlich rein englischsprachige Medien (Print und Funk), und Englisch ist die einzige Amtssprache (vgl. a.a.O., S. 17). Da Englisch auch als einzige Schulsprache verwendet wird, sprechen die Aboriginals oft schon im familiären Kontext Englisch, um die (durch Hautfarbe und Kultur bedingten) schulischen und sozialen Nachteile ihrer Kinder zu lindern bzw. nicht noch durch sprachliche Andersartigkeit zu verstärken (vgl. a.a.O., S. 20).
Dyirbal wird deshalb gemieden und in Anlehnung an das von den Weißen vermittelte Wertesystem als niedrig angesehen. Die Sprecher verwenden die Sprache vorsichtig und nur in ausgewählten Kontexten. Die Sprache, insbesondere das nur unvollständig erworbene Dyirbal der Jugendlichen, wird auch von den Aboriginals mit einem schlechten Prestige belegt und zu Gunsten des Englischen vernachlässigt, was einer weiteren kulturellen und sprachlichen Überformung Bahn bricht (vgl. a.a.O. S. 18f.). In Jambun finden sich folgende sprachliche Varietäten: Traditionelles Dyirbal (TD), Young Dyirbal (YD), Jambun English (JE, ein Pidgin) und Australisches Standardenglisch (SAE) (vgl. a.a.O., S. 26-28). SCHMIDTs Untersuchung konzentriert sich auf das YD und die Abweichungen vom TD nach DIXON. Die Sprecher des YD sind sogenannte Semi-Sprecher des Dyirbal, deren sprachliche Fertigkeiten von den Standards der "traditionellen" Sprache abweichen (vgl. SCHMIDT (1985b), S. 381):
"At first, my impression of 'imperfect' Dyirbal was of a dismal patchwork of inconsistencies and (from the point of view of TD) mistakes, haphazardly distributed over speakers and situations. It was easy to suppose that such picture reflected a sporadically disrupted stage in the decay of TD. However, I gradually became aware that the apparent 'mistakes' of the YD speakers were not random errors: rather, each individual had his own grammatical system for Dyirbal communication, involving simplification of the traditional grammatical norm to a greater or lesser degree.”
Die generellen Unterschiede vom Young Dyirbal zum traditionellen Dyirbal darzustellen, wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Hierbei möchte ich jedoch nicht SCHMIDTs Kapitelabfolge beibehalten, sondern gemäß der "klassischen" Anordnung der linguistischen Teildisziplinen zunächst mit der Phonologie beginnen, mich dann der Morphologie, der Syntax, der Semantik, der Lexik und abschließend der Pragmatik zuwenden.
Wie oben erwähnt, wird das YD vom Englischen beeinflusst. Zwar werden in der Regel die phonologischen Systeme von Dyirbal und Englisch noch differenziert, doch sind die Einflüsse des SAE deutlich. In den Lehnwörtern bzw. Pidgin-Formen des Dyirbal tauchen englische Laute auf, die das Dyirbal nicht hat, z.B. die Frikative /f/, /h/ wie bei dem Pronomen yufela 'ihr zwei' oder in helicopter (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 197).
Englische Einsprengsel in Dyirbal-Sätze werden ebenfalls gemäß der englischen Norm ausgesprochen:
"anaji happen to buran bayi helicopter we-PL see he We happened to see a helicopter.”(a.a.O., S. 192; Hervorhebungen durch die Verfasserin).
Laute oder Lautkombinationen, die das Englische nicht kennt, sind für einen Wandel besonders anfällig: Die Sprecher des YD sind anscheinend schon so vertraut mit dem Lautinventar des SAE, dass sie bestimmte Kontraste nicht mehr realisieren und versuchen, die "fremdartigen" Laute des Dyirbal auf die bekannt(er)en Phoneme des Englischen abzubilden.
So wird der Kontrast zwischen den beiden Liquiden /r/ und // nur noch in Minimalpaaren wie /yaa/ 'Mann' vs. /yara/ 'Angelschnur' bewahrt. In nicht-kontrastiven Positionen (bei Wörtern, die nicht Teil eines Minimalpaars sind) verwischt der Unterschied, und beide Laute werden wie Allophone verwendet (vgl. a.a.O. S. 192f.). Bei den jüngsten Sprechern werden /r/ und /d/ (vor allem intervokalisch) oft gleich als [] produziert und fallen letztendlich in /d/ zusammen. Das // wird oftmals in Annäherung an das Englische als [] oder [l] produziert, so dass insgesamt die rhotischen Liquide an das englische Phonemsystem angeglichen werden (vgl. a.a.O., S. 196).
Im traditionellen Dyirbal gibt es den velaren Nasal // auch im Wortanlaut — ein Vorkommen, das im Englischen ausgeschlossen ist. Die Sprecher des YD tendieren nun dazu, hier [n] statt [] zu sprechen. Umgekehrt wird die nicht-homorganische Konsonantenverbindung /ng/ zu /g/ assimiliert (vgl. a.a.O., S.196f.), so dass auch bei den Nasalkonsonanten eine Angleichung an das Englische zu beobachten ist, die jedoch nicht zwangsläufig im Englischen begründet sein muss. Solche Assimilationserscheinungen können durchaus auch ohne systemexterne Einflüsse auftreten, und sind für sich selbst genommen noch kein Indiz für das Sterben einer Sprache.
Insgesamt lässt sich dennoch festhalten, dass das lautliche System des TD nicht mehr strikt beibehalten wird, sondern sich im YD dem Superstrat Englisch annähert.
Die Überformung einer Sprache zeigt sich nicht nur an ihrer Phonologie. Wenn die Sprecher einer moribunden Sprache nur noch lückenhafte Kenntnisse haben, so schlägt sich dies zumeist auch deutlich in der Verwendung grammatischer Formen nieder. Je komplexer eine Form oder Konstruktion ist, umso länger dauert es im Spracherwerb, bis ein heranwachsender Sprecher deren Verwendung erlernt hat, und umso leichter werden solche Formen auch wieder verlernt, wenn sie nicht mehr aktiv verwendet werden (vgl. NETTLE/ROMAINE, S. 55).
Das Dyirbal (TD) hat ein ausgeprägtes System von 9 Kasus (Nominativ, Ergativ, Instrumental, (aktueller) Genitiv 1, Lokativ, (genereller) Genitiv 2, Dativ, Allativ, Ablativ), die durch Suffixe an Substantiven und Adjektiven markiert werden. Bei fünf dieser Kasus tritt eine phonologisch konditionierte Allomorphie auf (vgl. DIXON (1972), S. 42f.).
Das TD ist eine Sprache mit Split-Ergativität: Nomina, Adjektiva und die Marker der 3. Person werden nach einem Absolutiv/Ergativ-Schema flektiert, während Pronomina der 1. und 2. Person nach einem Nominativ/Akkusativ-Schema flektiert werden. Im TD gibt es für den Ergativ sechs Allomorphe: {-gu, -gu, -ju, -ru, -bu, -du} (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 46.). Bei den von SCHMIDT untersuchten Sprechern des YD wird dieses Set wie folgt verkleinert:
System | TD | YD (Sprecher) | |||
---|---|---|---|---|---|
Umgebung | "EM" | "MJ" | "BM", "EJ", "ED" | die übrigen sieben | |
2 Silb. + V | -gu | -()gu | -()gu | -()gu | -gu ..>.. Ø |
>2 Silb. + V | -gu | ||||
-y | -ju | -ju | |||
-rr, -r, -l | -ru (+Ausfall des Stammliquids) | -ru | -du | -du | |
-m | -bu | -bu | -bu | ||
-n | -du | -du | -du | ||
-ny | -ju | -ju | -ju |
Wie oben zu sehen, wird die Vielfalt der Ergativmarkierungen abgebaut. Bei den meisten YD-Sprechern ist - wenn überhaupt - nur noch eine Form {-gu} vorhanden, bei wenigen noch {-du} als Reflex einer ehemaligen Assimilation an den Auslaut des Wortstamms. So wird beispielsweise für die Phrase [die/eine] Frau sah [den/einen] Hund statt TD jugumbiru guda buran im YD jugumbilgu buran guda konstruiert (nach SCHMIDT (1985b), S. 385). Oft weicht man im YD jedoch auf eine Nominativ-Akkusativ-Konstruktion bzw. auf eine rein syntaktische Markierung aus, die wie im Englischen funktioniert: Subjekte transitiver und intransitiver Sätze stehen vor dem Verb, Objekte werden hinter das Verb gestellt (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 47f.). Für den o.a. Beispielsatz wäre das also: jugumbil buran guda.
Einige der Sprecher des YD, die den Ergativ nicht mehr verwenden, wenden das Spektrum seiner Allomorphe auf den Dativ/Allativ an, der im TD nur durch {-gu} markiert war (vgl. a.a.O., S. 59).
Bemerkenswert bei dieser Reduktion der Allomorphe ist, dass sie einen Rückschluss auf eventuelle zugrundeliegende Repräsentationen zulassen, der so im TD nicht möglich wäre, da jedes Allomorph nur in einer einzigen Umgebung vorkommt. Yidiny, die nördliche Nachbarsprache des Dyirbal, hat als Ergativmarkierung {-gu} nach Vokalen und {-du} nach Konsonanten. Das {-du} wird an Nasale und /y/ assimiliert, bleibt aber nach Liquiden unverändert, woraus man schließen kann, dass {-du} auch die zugrundeliegende postkonsonantische Form sein muss. Diese beiden zugrundeliegenden Formen {-gu, -du} des Yidiny sind nun dieselben, die als Resultat bei der Vereinfachung der Allomorphie im YD durch drei der Sprecher (siehe Tabelle 1) produziert wurden (vgl. SCHMIDT (1985b), S. 385).
Der Lokativ war im TD genau so formenreich wie der Ergativ und unterschied sich von diesem lediglich durch ein /a/ an Stelle des /u/ in den Suffixen. Im YD werden die Formen des Lokativs analog zu denen des Ergativs auf die Formen {-Nga} bzw. {-da} reduziert (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 53f.). Zwei Sprecher des YD verwenden ausschließlich, die anderen gelegentlich englische Präpositionen statt des Lokativs:
"jugumbil nyina-nyu on yugu. woman sit-NOFUT log The woman sat on the log."(ebd.; Hervorhebung durch die Verfasserin).
Der Instrumental, der im TD noch dieselben Formen hatte wie der Ergativ, wird im YD nunmehr auch (oder ausschließlich) durch das Suffix {-bila} markiert, das im TD ausschließlich den Komitativ markierte. Auch hier liegt eine Interferenz vor, die sich aus dem Englischen heraus erklären lässt, wo beide Funktionen durch die Präposition with ('mit') ausgedrückt werden (vgl. a.a.O. S. 55 u. 57).
Die Markierungen der Genitive fallen in {-u} zusammen, wodurch der Unterschied zwischen GEN1 und GEN2 (aktueller vs. genereller veräußerlicher Besitz) aufgehoben wird, auch der zuvor nicht morphologisch markierte unveräußerliche Besitz wird zunehmend mit dieser Form markiert (vgl. a.a.O., S. 60f.), den Endpunkt dieser Entwicklung zeigt nachfolgende Tabelle:
TD | YD | |
---|---|---|
GEN1 (nach Nasal) | -u | -u |
GEN1 (sonst) | -u | |
GEN2 | -mi | |
unveräußerlicher Besitz | -Ø |
Zusammenfassend lässt sich für das Kasussystem feststellen, dass bei den "Kernkasus" (a.a.O., S. 46) die Allomorphe zusammen fallen, während die peripheren Kasus im YD zumeist durch Präpositionen oder Ø ersetzt werden, so dass der betr. Kasus schließlich ganz erlischt, und das YD in seiner Tendenz isolierender wird (vgl. ebd.).
Die Verbalflexion wird im YD ebenfalls reduziert. Das Affix für das markierte Tempus Futur {-n(ja)y, -l(ja)y} wird fallen gelassen, eine nachzeitige Handlung wird nur noch lexikalisch, z.B. durch ulga ('morgen') markiert. Das Affix für das weniger markierte Nicht-Futur {-nyu, -n} bleibt als einzige und unveränderliche Verbendung erhalten (vgl. a.a.O., S. 64f). Ähnlich verhält es sich mit den anderen Flexionsendungen (z.B. Aspekt, Reflexivität, etc.; s. a.a.O., SS. 69-76 u. 82ff.), auf die ich deswegen hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen möchte.
Die urra-Konstruktion zur Verbindung zweier Verben mit ein und demselbem Handlungsträger (bei gleichzeitigen oder unmittelbar abfolgenden Handlungen) fällt nahezu komplett fort. Im TD funktionierte sie wie folgt:
bala yugu bagul yaragu madan waynyjiurra DEM-ABS Holz-ABS DEM-ERG Mann-ERG werfen-NOFUT bergauf gehen-urra Der Mann warf den Stock [hin] und ging [sofort los] bergauf. (nach DIXON (1972), S. 77).
In Fällen wie dem vorliegenden, wo eine NP mit dem Agens im Ergativ und eine NP mit demselben Agens im Nominativ (hier durch die Konstruktion elidiert) koordiniert werden, ist die urra-Konstruktion im TD obligatorisch, eine direkte Koordination wäre ungrammatisch (vgl. a.a.O., S. 78).
Die von SCHMIDT untersuchten Sprecher des YD verwendeten bis auf eine einzige Ausnahme diese Konstruktion nicht mehr, sondern verknüpften die dem obigen Beispiel zugrundeliegenden Sätze bala yugu bagul yaragu madan und bayi yara waynyjin statt dessen mit englischen Konjunktionen wie an' oder then (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 67).
Das Pronominalsystem wird unter Beibehaltung der drei Numeri erhalten. Die Pronomina des Singular bleiben im YD gegenüber dem TD unverändert, es schleichen sich in Dual und Plural jedoch Pidgin- Formen ein, die eine frappante Ähnlichkeit mit den Formen des Tok Pisin und ähnlicher englischbasierter Pidgins haben (vgl. a.a.O., S. 87ff):
YD | Tok Pisin | |||
---|---|---|---|---|
Dual | Plural | Dual | Plural | |
1.Pers. | min-dubala | wi-fela | yumitupela | mipela (exkl.) yumi (inkl.) |
2.Pers. | yun-dubala | yu-fela | yutupela | yupela |
3.Pers. | dubala | alugeda | tupela | ol |
Im TD gab es eigentlich keine Formen der 3. Person Dual und Plural, sondern nur die Demonstrativa balagara und balamagan, die ebenso wie die Demonstrativa bayi (mask. Sg.) und balan (fem. Sg.) teilweise die Funktionen erfüllten, für die in anderen Sprachen Pronomina verwendet werden (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 86).
Die Demonstrativa selbst werden ebenfalls einem Wandel unterzogen: die Unterscheidung von Ergativ/Absolutiv- und Nominativformen fällt weg, S, A und O stehen im unmarkierten Nominativ, die Allomorphie der übrigen Kasus wird abgebaut - insgesamt also das bereits aus Kap. 3.4.1 bekannte Bild. Hinzu kommt noch, dass die morphologisch nur am Demonstrativum markierten Nominalklassen reduziert werden (siehe hierzu auch Kap. 3.6), indem die Klassen III und IV zusammenfallen (vgl. a.a.O., S. 91ff.).
Auch im Bereich der Interrogativpronomina ist ein starker Abbau der Formen zu beobachten, der im Grunde das hier gezeichnete Bild nur bekräftigt (vgl. a.a.O., S. 96f.).
Die Morphologie des YD wird also alles in allem vereinfacht, indem Paradigmen in ihrem Umfang verkleinert und Allomorphien abgebaut werden. Komplizierte Formen werden vermieden und die Konstruktionen genauso wie die damit ausgedrückten Kategorien dem Englischen angenähert. Ein Wandel, der nicht ohne Folgen auch für die Syntax des YD ist.
Durch den Formenwegfall ergibt sich, dass bestimmte grammatische Funktionen auf andere Weise sprachlich realisiert werden müssen. Gerade durch den Abbau des Ergativ/Absolutiv-Systems würde die Kennzeichnung der Agens- bzw. Subjektfunktion und Objektfunktion verwischt, wenn sie nicht durch die Syntax markiert wird. Erreicht wird dies durch eine strengere Anordnung der Satzglieder nach englischem Muster. Im TD ist die Satzstellung prinzipiell sehr frei, bevorzugt wird jedoch im intransitiven Satz S-V und im transitiven Satz O-A-V (wenn A nominal ist) bzw. A-O-V (wenn A pronominal ist). An der Abfolge im intransitiven Satz ändert sich zum YD hin nichts, wahrscheinlich schon deswegen, weil im Englischen die selbe Reihenfolge besteht. Im transitiven Satz hingegen herrschen A-V-O oder A-O-V (beides bei pronominalem und nominalem A) vor. Damit nähern sich diese Grundtypen ebenfalls dem englischen S-V-O an, bei dem das Subjekt am Anfang der Phrase zu stehen hat (vgl. a.a.O., S. 105f.):
TD: baun jugumbi-ru margi-gu mirrany - Ø babi-n DEM-ERG Frau-ERG dünn-ERG Schwarzbohne-ABS aufschneiden-NOFUT YD: baun margi jugumbil-du babin mirrany DEM-ERG dünn Frau-ERG aufschneiden Schwarzbohne SAE: The thin woman sliced the blackbeans. (nach SCHMIDT (1985a), S. 102).
Der sogenannte S/O-Pivot ist ein markantes Element der syntaktischen Ergativität des TD. Um zwei Sätze zu koordinieren, müssen sie eine gemeinsame NP in S- oder O-Funktion haben. Wenn die gemeinsame Phrase in einem der Sätze S/O ist, und im anderen Satz in A-Funktion auftaucht, so muss eine Umformung der NP des zweiten Satzes in den Dativ und des Verbs des zweiten Satzes mit Hilfe des Antipassivs durchgeführt werden, um die beiden Sätze koordinieren zu können (vgl. a.a.O., S. 111f.). Im YD wird die Umformung mittels Antipassiv und Dativ seltener gebraucht, und fast nur noch in Konstruktionen mit einem Finalsatz (vgl. a.a.O., S. 114) angewendet. Die Verallgemeinerungen und Interpretationen, die SCHMIDT anhand der Analyse von Äußerungen zweier der zwölf YD-Sprecher macht, sind m.E. etwas weit hergeholt. Wenn bei zwei Sprechern die Allomorphe des Antipassivsuffixes auf zwei neuen Funktionen aufgeteilt werden, so ist dies zwar eine bemerkenswerte Innovation, die gegen den allgemein beobachteten Trend zum Abbau von Komplexität steht, doch ist es eben nur eine Ausnahme und kein eigener Trend. Schließlich ist es unleugbar, dass der überwiegende Teil der YD-Sprecher ein Suffix {-laygu} als Final-Marker ansieht (vgl. a.a.O., S. 116). Ursprünglich ist {-l()ay} das Suffix für das Antipassiv und {-gu} der Marker für Finalität. Dadurch, dass die {-l()ay}-Ableitung und die Koordination zweier Sätze mittels Antipassiv im YD beinahe ausschließlich noch mit Finalsätzen geschieht, haben die entsprechenden Sprecher die Form als ein Morphem reanalysiert (vgl. a.a.O., S. 117f.), das dann auch an intransitive Verben treten kann — das ursprüngliche Affix {-l()ay} konnte ja in seiner Funktion überhaupt nur nach transitiven Verben stehen (vgl. ebd.).
Zur Koordination und Subordination von Sätzen verwendeten die meisten YD-Sprecher den S/O-Pivot nicht mehr, sondern verbanden Sätze durch reine Juxtaposition oder durch den Relativmarker {-u}, der an das Verb des Relativsatzes angehängt wird (vgl. SCHMIDT (1985b), S. 391), oder durch (englische oder dyirbalisierte) Konjunktionen wie an', then oder baum 'dann' (vgl. a.a.O., S. 388).
Insgesamt zeigt sich in der Syntax des YD erneut die bereits in den vorangegangenen Abschnitten festgestellte Tendenz zur Vereinfachung und zur Annäherung an englische Muster, sowohl was die Grundstruktur des Satzbauplans angeht, als auch bei den Mittel zur Verknüpfung zweier Sätze. Die "Grammatik i.e.S." des Dyirbal ist also im Zuge des Niedergangs vereinfacht und umgebaut worden. Aber auch im Bereich von Semantik und Lexikon hat es bemerkenswerte Veränderungen gegeben, wie wir im Folgenden sehen werden.
Wie bereits in Abschnitt 3.4.2.2 angedeutet, hat sich das System der Nominalklassen vom TD zum YD stark verschoben. Im TD war jedes Substantiv einer der vier Klassen I bis IV zugeordnet und wurde mit dem entsprechenden Demonstrativum verknüpft, das die Klassenzugehörigkeit anzeigte:
Klasse | Beispiel | semantische Klasse |
---|---|---|
I | bayi yara 'der Mann' bayi gagara 'der Mond' | belebt, männlich (Mensch); mythologisch assoziiert |
II | balan jugumbil 'die Frau' balan buni 'das Feuer' | weiblich (Mensch); Wasser, Feuer, Kampf, gefährlich |
III | balam wuju 'das Gemüse' balam mirrany 'die Schwarzbohne' | essbar (pflanzlich) |
IV | bala yugu 'der Baum' | sonstiges |
Die Zugehörigkeit der Wörter zu den jeweiligen Klassen ist nicht willkürlich, und für TD-Muttersprachler durchaus motiviert, insofern als dass sie in kulturellen und mythologischen Zusammenhängen begründet ist. Auch die oberflächlich als Unregelmäßigkeiten auffälligen "Abweichungen" sind durchaus begründbar, beispielsweise durch mythologische oder konzeptionelle Assoziationen: Die meisten Vögel, die aufgrund ihrer Belebtheit in Klasse I zu vermuten wären, sind im TD in Klasse II, weil man in ihnen die Seelen verstorbener Frauen annahm; Die Wörter für 'Angelschnur' und 'Fischspeer' sind (obwohl die Denotate definitiv unbelebt sind) in Klasse I, weil sie mit dem (belebten) 'Fisch' assoziiert werden. Einige aggressive oder giftige Tiere werden aus ähnlichen Gründen der Klasse II statt der Klasse zugeordnet (vgl. a.a.O., S. 151). Dieses System von Klassenzuordnungen hat für den Dyirbal-Sprecher, der sich im kulturellen Erbe, den Traditionen und in der Mythologie seines Stammes auskennt, eine gewisse Logik.
Für Außenstehende ist es kompliziert und kaum durchschaubar. Junge Dyirbalan, die nicht mehr auf die traditionelle Weise aufgewachsen sind (und das ist spätestens seit 1940 keine Generation mehr)(6), haben es folglich schwer mit diesem System (vgl. a.a.O. S. 152f.). In ihrem Sprachgebrauch verschiebt es sich hin zu einem regelmäßigeren und vorhersagbareren System, das auf zwei Grunddichotomien basiert: belebt/unbelebt und männlich/weiblich, wobei nur bei den Belebten nach Sexus unterschieden wird. Daraus ergeben sich dann drei Klassen:
Klasse | Beispiel | semantische Klasse |
---|---|---|
I | bayi yara 'der Mann' bayi yuri 'das Känguru (männl. od. ?)' | +belebt +männlich +belebt (Sexus unmarkiert) |
II | balan jugumbil 'die Frau' balan yuri 'das Känguru (weibl.)' | +belebt +weiblich |
IV | bala wuju 'das Gemüse' bala yugu 'der Baum' bala gagara 'der Mond' bala buni'das Feuer' bala mirrany 'die Schwarzbohne' | -belebt |
Die Zuordnung zu den neuen Klassen erfolgt also viel strikter und nach wesentlich durchsichtigeren Kriterien und vereinfacht so das System erheblich; dies geschieht um so deutlicher, je weniger gut die Sprecher im YD waren. Diejenigen, die eine größere Kompetenz im Dyirbal hatten, verwendeten Mischsysteme, bzw. waren sich uneins über die Klassenzugehörigkeit bestimmter Lexeme (vgl. a.a.O., S. 159).
Diese Mischsysteme weisen bei aller Inhomogenität einige Prinzipien auf, anhand derer die Umstrukturierung der Nominalkassenzuordnung geschieht, so fallen bestimmte unerklärbare Ausnahmen (die Wörter für 'Hund', 'Schnabeltier' und einige andere Tiere gehören im TD zu Klasse II statt I), die in der Kultur begründeten Ausnahmefälle wie z.B. die konzeptuell assoziierten (wie 'Fischspeer', s.o.) und die wegen der Bedeutungskomponente 'Gefahr' markierten (s.o.) Wörter zuerst aus den Ausnahmen in die "zu erwartenden" Klassen zurück (vgl. a.a.O., S. 163). Die "periphereren" Mitglieder einer Nominalklasse werden also in eine neue und stark expandierte Restklasse verschoben, so dass sich letztendlich ein System herausbildet, das ausschließlich nach 'männlich - weiblich - unbelebt' differenziert — ein System, das nicht nur aus dem Englischen (und anderen indoeuropäischen Sprachen), sondern auch aus vielen anderen Sprachen der Welt bekannt ist (vgl. a.a.O., S. 166f). Dieser Wandel kann also durchaus auch ohne direkten Einfluss des Englischen in dem Sprachwandel mitbegründet sein, der hier mit dem Verschwinden des kulturellen Hintergrunds einhergeht.
Für eine Vielzahl spezieller Begriffe hatte das TD eigene lexikalische Einheiten, die im YD oft in einen einzigen Ausdruck zusammenfallen, der alle Bedeutungen in sich vereint. Sofern vorhanden, ist dies oft das Hyperonym oder aber der zentrale Begriff des Begriffsfelds, wie z.B. bei dem Wort für 'groß'. Der Oberbegriff im TD ist yugi, und das ist das Wort, das im YD noch Verwendung findet. Die Hyponyme im TD waren u.a. wayja, yuguy, magara und einige mehr, die jeweils 'groß' in Bezug auf bestimmte Tiere bezeichneten (vgl. a.a.O., S. 185). Ähnliches geschieht auch in Bereichen, die kein Hyperonym hatten, wie z.B. bei den Bezeichnungen für verschiedene Aale. Hier wurde der Bedeutungsumfang des Worts für die verbreitetste Sorte, jaban, auf alle anderen Arten ausgedehnt. Bemerkenswert ist, dass bei diesem Prozess ähnliche Kriterien greifen wie bei der "Schwiegermuttersprache" Jaluy. Auch hier wurden (im TD) Verallgemeinerungen und Oberbegriffe benutzt, wenn auch zumeist zusätzlich noch andere Ausdrücke für den jeweiligen Oberbegriff verwendet wurden (vgl. a.a.O., S. 186ff.).
Dass die traditionelle Kultur der Dyirbalan, wie die aller Aboriginals, über Jahrhunderte hinweg als unterlegen bzw. sogar inexistent angesehen wurde, und dass sie von der "Siegerkultur" der Europäer stark überformt wurde, lässt sich auch und gerade am Lexikon des Dyirbal feststellen.
Viele Weiße hingen und hängen immer noch dem Vorurteil an, dass die "Eingeborenensprachen" primitiv seien, und keinen nennenswerten Wortschatz hätten. So berichtet DIXON von einem Rundfunkinterview, das er 1963 über seine Feldstudien gab:
"In our interview, [the reporter] asked the sort of questions his listeners might have put. 'You really mean the Aborigines have a language? I thought it was just a few grunts and groans.' Then, 'But they don't have more than about two hundred words, surely?' I replied that I had collected over five hundred names for animals and plants from the Stewarts in a single morning, and that could only be a fraction of the lexicon."(DIXON (1983), S. 63).
Auch ohne die Begriffe für die "Segnungen" der westlichen Kultur war das Lexikon des Dyirbal also vermutlich schon sehr reich und vielschichtig — nur eben in anderen Bereichen, als man es vom europäischen Denken her gewohnt ist. Das Lexikon und die sprachlichen Mittel einer Sprache sind geprägt durch die Lebensumstände und die Geschichte ihrer Sprechergemeinschaft:
"Through being used by a particular group of people over generations for particular purposes, each of the world's languages has come to express the things important to that culture in a distinctive and efficient way by naming them individually.”(NETTLE/ROMAINE, S. 59).
Im Zuge der kulturellen Assimilation und der (zumeist unfreiwilligen) Um- bzw. Ansiedlung haben die Dyirbalan traditionelle Lebensweisen aufgegeben und in vielen Lebensbereichen das Englische zum hauptsächlichen Interaktionsmedium gemacht.
Dieser Umbruch zeigt sich sehr deutlich im Lexikon, das den YD-Sprechern zur Verfügung steht. Bei einem Vokabeltest, den SCHMIDT mit sechs der zwölf Sprecher durchführte, wurden richtige Antworten im Bereich von 34 bis maximal 72% (170 - 356 von 498 abgefragten Wörtern) erzielt. Ein deutlicher Abbau also, der den aktiven und passiven Wortschatz betrifft (vgl. SCHMIDT (1985a), S. 169f.). Eine Vergleichsprobe mit Sprechern aus der Altersgruppe der 5- bis 15jährigen ergab ein noch viel erschreckenderes Bild:
"Although no Jambun children in the 5-15 year age group could construct a Dyirbal sentence, several of them could recall some Dyirbal words (I estimate seven/ten of 40 children).”(a.a.O., S. 173f.; Hervorhebung von mir, d.A.).
Insgesamt erreichten die Probanden hier zwischen 19 und 83 der 498 Wörter, also zwischen 4% und 16% — diese "Treffer" liegen allerdings fast ausschließlich im Kernbereich der hochfrequenten Wörter wie z.B. Körperteile, bekannte Tiere, alltägliche Aktivitäten (vgl. a.a.O., S. 174). Wörter aus den kleineren geschlossenen Wortklassen wurden hingegen von keinem der Kinder mehr gewusst. Es ist davon auszugehen, dass im passiven Wortschatz der YD-Sprecher und auch der jüngeren Kinder noch mehr verankert ist, als durch direkte Abfrage gefunden wurde (vgl. a.a.O., S. 174f.). Das fehlende Vokabular und der nachlassende Gebrauch des Dyirbal dürften sich hier sicherlich gegenseitig negativ verstärken. Wem es schwer fällt, (die richtigen) Worte in einer Sprache zu finden, der weicht lieber auf ein System aus, das er besser beherrscht.
Wie sich besonders an den Vokabelkenntnissen der Jüngsten zeigt, verfällt das Lexikon des YD nicht gleichmäßig, sondern es werden verschiedene Bereiche mehr oder weniger stark abgebaut, während sich bestimmte "lexikalische Inseln", wie SCHMIDT es nennt, erhalten (a.a.O., S. 175).
Was den Rückgang nach Wortarten angeht, fasst SCHMIDT kurz zusammen:
"[...] in a vocabulary loss situation, it is the noun items with real-world referents that are most resistant. In contrast, YD speakers have a much smaller number of verbs and adjectives, which describe actions, states and qualities.” (a.a.O., S. 176).
Die "lexikalischen Inseln" des YD liegen vor allem im Bereich des Alltagsvokabulars, insbesondere bei den Bezeichnungen für Menschen ('Mann', 'Frau', 'Aboriginal', 'Kind', 'Ahne, Geist'), einige geläufige oder sehr bekannte Tiere ('Hund', 'Känguru', 'Fisch', 'Taipan'(7)) und für die menschlichen Körperteile(8) (vgl. ebd.). Auf der anderen Seite verschwinden vor allem die Wörter für unbelebte Entitäten sowie Bezeichnungen des Nicht-Alltäglichen, der abgelegten Kultur, also die stark ausdifferenzierten Verwandtschaftsbezeichnungen, die Bezeichnungen für Zeremonien, Artefakte und künstlerische Ausdruckweisen, sowie das ehemals sehr umfangreiche Inventar an Bezeichnungen für Tiere, Pflanzen, Wetterbedingungen und Landschaftsformen (vgl. a.a.O., S. 177).
Ein weiterer Faktor hinsichtlich des Umfangs des YD-Lexikons ist das Eindringen von Pidgin-Formen. Nicht nur bei den Pronomen (s. Kap. 3.4.2.2, Tab. 3) sondern auch bei den Partikeln wird verstärkt auf solche Mittel zurückgegriffen, so dass sich Formen wie nomo (< engl. no more), gen (< engl. again), bin (< engl. been; als lexikalischer Marker für Vergangenheit), orait (< engl. all right) einschleichen (vgl. a.a.O., S. 180f.).
Neben der quantitativen Veränderung des Wortschatzumfangs sind auch strukturelle Änderungen im erhaltenen Teil zu vermerken. So werden in einigen Fällen Affixe des TD nicht mehr als solche behandelt, sondern als feste Bestandteile des Wortstamms. Einige Sprecher des YD fusionieren beispielsweise das Iterativsuffix {-gani} mit bestimmten Verbstämmen, so dass u.a. aus TD nyina-y 'sitzen' YD nyina+gani+nyu wird. Alle YD-Sprecher fusionieren das falsche Reflexivaffix {-marri} mit dem Stamm guni-y 'suchen' zu guni+marri+nyu. Letzteres scheint aber bereits tendenziell im TD angelegt gewesen zu sein (vgl. a.a.O., S. 179).
Die westliche Kultur, ihre Vorstellungen und Gegenstände, sind unübersehbar in das Alltagsleben der Aboriginals eingedrungen. Für viele dieser neuen Konzepte hatte das Dyirbal keinen Ausdruck. Diese "neuen Lücken" wurden auf verschiedene Weise geschlossen. Zum einen wurden (bereits im TD) die Bedeutungsumfänge bestimmter Wörter (metaphorisch oder metonymisch) ausgedehnt, um Neues zu erfassen, beispielsweise bei der Übertragung von bulmban 'ausgestreutes Gras für die Schlafstatt' auf 'Bett europäischen Stils' oder bugu 'Knie, Welle' auf 'Rad eines Kraftfahrzeugs' (vgl. a.a.O., S. 181). Zum anderen wurden Wörter aus dem Englischen (unter phonologischer Anpassung) entlehnt, so z.B. juwa (< engl. store), bujigan (< engl. pussycat), dagida (< engl. doctor), modaga (< engl. motorcar) oder biba (< engl. paper). Die meisten von SCHMIDT aufgeführten Wörter sind jedoch bereits in das TD entlehnt worden (vgl. a.a.O., SS. 182 u. 190).
Der weitaus häufigste Fall jedoch ist die bloße Substitution — wenn es im TD kein Wort für einen bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt gibt oder wenn das entsprechende Dyirbal-Wort dem YD-Sprecher nicht präsent ist, wird statt dessen ein englisches Wort verwendet, und einfach in den YD- Satz eingebaut, wie folgendes Beispiel zeigt:
"anaji happen to buran bayi helicopter we-PL see he We happened to see a helicopter."(a.a.O., S. 192; Hervorhebungen durch die Verfasserin).
Hier wird besonders deutlich, dass eine Verdrängung des Dyirbal stattfindet. Die YD-Sprecher verlassen sich mehr und mehr auf englische Redemittel, wenn sie nicht sogar ganz zum Englischen wechseln.
Weite Teile ihrer Untersuchung stützte Annette SCHMIDT auf direkte Befragungen und Tests. Um jedoch das Beobachter-Paradox zu vermeiden, und die tatsächliche Sprachverwendung zu erforschen, stellte sie auch informelle Beobachtungen an (vgl. a.a.O., SS. 127-130).
"[...] the very presence of a stranger will influence the speech of the group under observation. In the case of the Jambun study, physiological difference in skin colour was a constant reminder of the presence of an outsider. At first, this presented a real problem, as my peers would constantly switch to English in my presence.” (a.a.O., S. 129).
Aus dem Zitat wird deutlich, dass die Verwendung des YD an bestimmte Situationen gebunden ist. Wenn Fremde, zumal Weiße, anwesend sind, wird auf Englisch (SAE oder JE, je nach Kompetenz) umgeschaltet. Dyirbal (YD) wird nur dann in Anwesenheit von Weißen verwendet, wenn man sich von diesen abgrenzen will oder aber wenn ein sehr gutes Vertrauensverhältnis besteht (vgl. a.a.O., SS. 31f. u. 130).
Es gab unter den YD-Sprechern, die SCHMIDT befragt hat, zwei Gruppen von Mädchen, die sich von einander und den anderen Jugendlichen abgrenzten. Sprachlich taten sie dies, indem sie innerhalb der Gruppe ihre Varietät des YD redeten (die leicht von derjenigen der anderen Gruppe abwich), mit Mitgliedern der anderen Gruppe hingegen Englisch (JE) (vgl. a.a.O., S. 128f.). Die Sprache dient also auch innerhalb der Gemeinschaft noch einmal als abgrenzender Faktor. Auf die feinen Unterschiede in den Varietäten der beiden Gruppen möchte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht en détail eingehen (s.f.w. a.a.O., Kap. 5). Prinzipiell lässt sich jedoch sagen, dass das YD außerhalb der Befragungssituation teilweise morphologisch weniger komplex und in weiten Zügen auch weniger konsistent war, als die Sprecher in den Tests den Eindruck vermittelten (vgl. a.a.O., S. 145f.).
Primäre Sprache in Jambun ist aber nicht mehr Dyirbal, sondern Jambun English, das vorrangig als Kommunikationsmedium verwendet wird. Dyirbal wird nur gegenüber Mitgliedern der eigenen Peer-Group oder manchmal gegenüber einigen älteren Personen verwendet, wobei letzteres jedoch nachlässt, da die TD-Sprecher oft das YD als fehlerhaft kritisieren und korrigieren, was dazu führt, dass manche YD-Sprecher resignieren und lieber gleich Englisch reden (vgl. a.a.O., S. 38).
Wir haben gesehen, dass sich das YD auf allen Ebenen vom TD unterscheidet. Die Strukturen in Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Lexikon sind i.d.R. vereinfacht worden, Ausnahmen wurden beseitigt und komplizierte Konstruktionen z.T. verworfen.
Eine Vereinfachung komplexer Systeme ist durchaus auch ein normaler Vorgang innerhalb einer "gesunden" Sprache — Ökonomiebestrebungen sind schließlich Dinge, die den Sprachwandel einer jeden menschlichen Sprache voran treiben. Der wesentliche Unterschied zu den Vorgängen im Dyirbal ist jedoch, dass der Abbau der Komplexität bestimmter Stellen im System hier nicht mehr an anderer Stelle wieder ausgeglichen wird. Die Sprache ist aus dem Gleichgewicht gekommen und verliert mehr, als sie durch Umbau dazu gewinnt. Die entstehenden Lücken werden zumeist nicht mehr durch Mittel aus dem Dyirbal selbst, sondern durch Übernahmen aus dem Englischen oder durch Wechsel zum Englischen ausgeglichen. Hier tut sich eine teufelskreis-ähnliche Abwärtsspirale auf: Mangelhafte Sprachkompetenz (durch schlechten Spracherwerb) führt zu Schwächen und Unsicherheiten in der Performanz, diese führen zu Frustration und Resignation und schließlich zur Vermeidung von Kommunikationssituationen in der betreffenden Sprache. Die daraus resultierende mangelnde Praxis lässt nun wiederum die Kompetenz weiter zurück gehen, da komplexere Konstruktionen und selten verwendete Mittel wieder verlernt werden. Dies seinerseits führt erneut zu Fehlern und Unsicherheiten, welche neuerlich in Frustration und Vermeidung resultieren, so dass die Sprache in immer weniger Kontexten verwendet wird, bis sie schließlich komplett gegen ein anderes System (hier: das Englische) ausgetauscht wird.
Im folgenden Kapitel möchte ich versuchen darzustellen, wie weit dieser Prozess voran geschritten ist, und wie sich die Situation des Dyirbal und seiner (ehemaligen?) Sprecher heute, gut neunzehn Jahre nach SCHMIDTs Untersuchung und achtunddreißig Jahre nach dem Beginn von DIXONs Forschungen, darstellt.
Neben den in Kap. 2.2 aufgeführten Sprecherzahlen finden sich in verschiedenen Quellen auch einige weiter gehende Hinweise über den gegenwärtigen Stand des Dyirbal und die Lebenssituation der Aboriginals im Untersuchungsgebiet SCHMIDTs. Auf der Homepage der Tully State High School (in der Gemeinde Tully, knapp 20 Kilometer von Murray Upper entfernt) findet sich beispielweise die folgende Aussage:
"The community [Gemeinde Tully; d. Autor] is predominantly rural (based on sugarcane, bananas and cattle) with associated services and tourism as the other major areas. Unemployment is low. The geographic location (two hours drive to Cairns or Townsville) enforces a marked cultural isolation. The community consists of a diversity of socio-economic, ethnic and cultural backgrounds, including a significant Aboriginal and Torres Straight [sic!] Islander population, some living in communities. Some Aboriginal students have English as a second language.”(TSHS).
Nur für wenige der Aboriginal-Kinder ist Englisch also nicht die primäre Sprache ihrer Sozialisation, sondern zweite Sprache, und das scheint schon erwähnenswert. Daraus lässt sich folgern, dass der überwiegende Teil Englisch als Erstsprache hat — also bereits sprachlich assimiliert worden ist. Das Schicksal des Dyirbal ist nicht die Ausnahme, sondern nur ein Beispiel für den Untergang der meisten Aboriginal-Sprachen Australiens, die allesamt in einer Bedrohungslage sind, wie eine parlamentarische Kommission in ihrem Bericht 1992 schreibt:
"Only about one tenth of the original languages survive today in a relatively healthy state. About a third of the original languages continue to be spoken but are under considerable threat, often being spoken by only a handful of elderly speakers. Much of the language loss that has occurred is irretrievable. However, language maintenance activities can do much to maintain strong language [sic!] and assist weakened languages. As it is not possible to revive dead languages it is necessary to assist languages before they reach a severely threatened state. The committee acknowledges that many severely weakened languages do not have good prospects for survival as a comprehensive living language.”(Standing Committee).
Dies ist eine Einsicht, die für den überwiegenden Teil der Sprachen Australiens ohnehin zu spät kommt. Sie sind entweder bereits vergangen oder stehen unmittelbar vor ihrem Ende, da sie zu lange vernachlässigt und unterdrückt wurden. Zwar gibt es seit wenigen Jahren Projekte zur Stärkung der "native languages", jedoch wird weiterhin ausschließlich Englisch als offizielle Sprache Australiens verwendet(9), auch im Schulunterricht:
"The present curriculum is oriented only toward white society and its values. In other words, rather than enhancing or enriching cultural identity, education replaces Dyirbal with English and an impression that Dyirbal is unimportant.”(SCHMIDT (1985b), S. 381).
Verglichen hiermit ist der Status der Sprache Maori im benachbarten Staat Neuseeland geradezu bemerkenswert gut:
"Unlike Australia's Aborigines, New Zealand's 100,000 indigenes all shared a common language [...]. Thus Maori have a single resource under which they can unite. Maori is still spoken by at least 50,000 people. There are over 400 Maori schools, and the language is widely written and used in the law. Indeed, Maori took its place alongside English as an official language of New Zealand in 1987.”(NETTLE/ROMAINE, S. 124).
Von dieser Situation sind die Aboriginals und ihre Sprachen sehr weit entfernt. Zwar hat es in der Politik und in der Gesellschaft Australiens eine Umorientierung gegeben, dennoch hinkt man in Australien dem in Neuseeland Erreichten (bzw. Bewahrten) weit hinterher. Sicherlich ist es um einiges schwieriger, (ehemals) mehrere hundert Sprachen zu pflegen, als eine, aber ohne die passende Grundhaltung des Staats zu seinen Minderheiten hat auf Dauer auch eine einzelne, relativ starke Sprache kaum eine Überlebenschance.
Im Zuge der politischen Umorientierung wurde Anfang der 1990er Jahre die oben erwähnte Kommission eingesetzt, die Vorschläge erarbeitete, wie dem von SCHMIDT vorgebrachten Problem der kulturellen und sprachlichen Assimilation und des Wechsels zum Englischen als Hauptkommunikationsmedium abgeholfen werden könne. Neben der Ausbildung von Gerichts- und Behördendolmetschern liegt ein Hauptaugenmerk der empfohlenen Maßnahmen im Bereich der Schulung sowohl von Aboriginal-Lehrern als auch von weißen Lehrern für Ureinwohnersprachen und der Neugestaltung von Lehrplänen (vgl. Standing Committee).
Muttersprachlicher Unterricht in Ureinwohnersprachen soll jedoch nur dort angeboten werden, wo entsprechend ausgebildete Lehrer zur Verfügung stehen und die offizielle Nachfrage (durch die ortsansässige Bevölkerung) danach besteht und eine hinreichende Anzahl Sprecher die betreffende Sprache noch spricht (vgl. ebd.), dies ist jedoch bislang nicht der Fall:
"In recent years there has been growing pressure for all students to learn a language other than English (LOTE) before leaving school. These changes emphasise the neglect of ATSI [= Aboriginal and Torres Strait Islander; d.A.] languages within schools and in the wider community. During the course of the inquiry no ATSI language had a curriculum to year 12 level. In fact it was extremely rare to find an ATSI language offered at high school. The committee finds it intolerable that while most migrant children with a first language other than English have been able to study that language up to matriculation level, ATSI children cannot study their language at high school.” (ebd.)Auch an der Tully State High School gibt es zwar seit einigen Jahren Unterricht zu den Aboriginal-Sprachen, jedoch nicht in ihnen:
"Year 8 English students are introduced to the culture and language of the local Jirrbal and Girramay people. This unit of work develops understanding of local Aboriginal people and English language through comparing the different language structures.” (TSHS).
Außerdem handelt es sich laut Überschrift des zitierten Abschnitts um "student support" (a.a.O.), also eine Art zusätzlichen Förderunterricht oder eine Arbeitsgemeinschaft im Rahmen des Englischunterrichts, die nur in einer einzigen Jahrgangsstufe angeboten wird.
In Murray Upper — dem Ort, der aufgrund der Größe der Sprechergemeinschaft am besten geeignet gewesen wäre, das Dyirbal lebendig zu erhalten — stand der muttersprachliche Unterricht unter keinem guten Stern: Bis zum Wechsel des Schulleiters im Jahre 1976 drohte Aboriginal-Kindern sogar die Prügelstrafe, falls sie auf dem Schulgelände etwas anderes als Englisch sprachen (vgl. DIXON (1983), S. 67). Der neue Schulleiter, der aber nur vier Jahre vor Ort blieb, hatte hingegen reges Interesse an den Aboriginal-Sprachen und ließ seine Schüler z.B. in Projekten auf der Grundlage eigener Erhebungen kleine Bildwörterbücher zu traditionellen Lebensweisen erstellen (vgl. ebd.). Sein Nachfolger hatte zwar offiziell auch das Vorhaben, einen Dyirbal-Unterricht einzuführen, und wurde dafür von DIXON mit Material (u.a. ausgearbeiteten Unterrichtseinheiten und speziell angefertigten kleinen Vokabellisten) ausgestattet, ließ dieses jedoch ungenutzt (vgl. DIXON (1991), S. 193). Über die Entwicklung in den 1980er Jahren berichtet DIXON weiter:
"Things could have been so much better. [...] Marcia Jerry [...] is a trained schoolteacher who also speaks Dyirbal pretty well. She was at the Murray Upper school in the mid-1980s and did some valuable teaching of Dyirbal, to both Aboriginal and white children. But Marcia did not like the school principal and left [...]. The whole Aboriginal community dislikes the principal and asked me to try to get him moved. [...] But the principal is still there, alienating another generation of Aboriginal children and effectively standing in the way of any teaching of Dyirbal in the school.”(a.a.O., S. 199).
So scheitert(e) also an den persönlichen Vorbehalten weniger Menschen die Chance, Dyirbal in den nachfolgenden Generationen zumindest in Ansätzen zu festigen. Dem ohnehin übermächtigen Prozess der Verdrängung durch das Englische wurde auf diese Weise weiter Vorschub geleistet — an einer der wenigen Fronten, an denen man ihn überhaupt sinnvoll hätte eindämmen können.
Muttersprachlicher Unterricht wäre für die Heranwachsenden ein wichtiger Faktor, sich mit ihrer Kultur und Sprache zu identifizieren und zu merken, dass ihre Herkunft nicht so primitiv und unwürdig ist, wie es Jahrzehnte lang in den Schulen und Medien propagiert wurde. Darüber hinaus muss aber auch in den übrigen Lebensbereichen eine Umgebung geschaffen werden, die den Gebrauch der Ureinwohnersprachen fördert, statt ihn zu behindern, und die wirksam das Stigma dieser Sprachen bekämpft. In manchen Sprachen Australiens scheint dies bereits recht gut zu funktionieren: Es gibt für Sprachen wie Western Desert oder Pitjantjatjara regionale Radiosender, Zeitungen, Schulbücher und ganze Sammlungen von Internet-Dokumenten zu Kultur, Sprache, Gemeinschaftsleben etc. Darüber hinaus gibt es einige Projekte, die der Organisation und Dokumentation des Aboriginal-Lebens allgemein dienen, wie z.B. das Koori Network(10) (http://www.koori.net/) und das Koori Centre der University of Sydney auf dessen Homepage (http://www.koori.usyd.edu.au/) sich Links zu einem breiten Spektrum an Informationsangeboten von, für und über Aboriginals finden.
Für das Dyirbal dürfte jedoch jede Hilfe und Initiative wie die Schaffung dyirbalsprachiger Medien bereits zu spät kommen, es gibt schlichtweg keine Sprechergemeinschaft mehr, die noch einen Sinn darin sieht, Dyirbal im Alltag zu verwenden und von sich aus an nachfolgende Generationen weiter zu geben, wie DIXON bereits für die Situation vor 1968 berichtet:
"My first teacher of Dyirbal, Chloe Grant, was fluent in her own language and in English. But Chloe and her husband spoke only in English to their children, since they felt it would give them a better chance in the world. This undoubtedly helped the children, but the side effect was that they cannot speak in their parents' language (and regret that they can't).”(DIXON (1997), S. 109).
Extrapoliert man die Daten aus SCHMIDTs Untersuchung, so sind die Sprecher des YD heute selbst zwischen 34 und 54 Jahren alt, die letzten TD-Sprecher entsprechend eine Generation älter. Mindestens eine, wenn nicht zwei Generationen von Aboriginal-Kindern sind inzwischen herangewachsen, die keine Gelegenheit hatten, aktives Dyirbal als Muttersprache zu erlernen.
Es ist nunmehr nur noch eine Frage der Zeit, wann die letzten Sprecher bzw. Halbsprecher des Dyirbal es völlig aufgeben, die Sprache ihrer Vorfahren zu sprechen und statt dessen komplett auf das übermächtige Englisch umschalten. Spätestens aber wenn kein Vertreter der Generation der alten TD-Sprecher mehr lebt, wird mit ihnen auch der letzte Grund zur aktiven Verwendung des Dyirbal erloschen sein.
Dass Sprachen einander beeinflussen und bisweilen verdrängen, dass sie entstehen und vergehen, ist nichts Unnatürliches und nichts, das erst in jüngster Vergangenheit erstmalig geschieht. Neu jedoch ist, mit welcher erschreckenden Rate in den letzten Jahrzehnten Sprachen aufgehört haben zu existieren. Die Beobachtung, dass die Zahl der Sprachen auf der Erde immer weiter abnimmt, hat viele Linguisten bewogen, Erklärungsmodelle für dieses Phänomen zu entwickeln. Einige dieser Modelle möchte ich an dieser Stelle kurz ansprechen, sofern sie sich auf den Niedergang des Dyirbal beziehen lassen.
Das gegenwärtige Sterben der australischen Sprachen beispielsweise wird von Daniel NETTLE in einen systematischen Zusammenhang gestellt: Die absolute Anzahl der Sprachen in Australien war über Jahrtausende wenn nicht Jahrzehntausende konstant, jedoch wurden Sprachen durch Sprachtod und das Entstehen neuer Idiome quasi "ausgetauscht". Da die australischen Sprechergemeinschaften schon immer sehr klein waren (im Schnitt ca. 2000 Sprecher/Sprache), und sich die Gesamtheit der Aboriginals (ca. 750.000 vor 1788) eine stark überdurchschnittliche Anzahl von Sprachen (um 1788 mindestens 266) teilt, ist ein Sprachwechsel schon immer wesentlich schneller möglich gewesen, auch ohne die Einwirkung weißer Siedler. Jedoch befand sich das System der Aboriginal-Sprachen absolut gesehen über lange Zeit im Gleichgewicht (vgl. NETTLE 1999, S. 93 u. 98).
Neu ist, dass nun nicht mehr verschiedene Aboriginal-Sprachen einander ersetzen, sondern dass einzig und allein das Englische als Ersatz eintritt, so dass das alte Gleichgewicht aufgehoben und die Summe der verschiedenen Sprachen immer geringer wird, da die ursprünglichen Sprachen ihrer Grundlagen beraubt werden:
"The European expansion had a devastating effect on the indigenous languages of the settled areas. Expanding European populations [...] had little interest in sharing the lands they were appropriating with anyone, and either murdered indigenous peoples, forcibly assimilated them, or drove them into marginal habitats they could not use. Their replacement of the indigenous peoples was aided by [...] infectious diseases. [...] Where indigenous populations did not die out, they were forcibly disrupted, and both disruption and reduction of numbers prevented them from continuing as viable cultural units.”(vgl. a.a.O., S. 107f.).
Ein weiterer Faktor, der zum Verschwinden der entsprechenden Sprachen führt, ist der freiwillige Wechsel der Sprecher zu anderen Sprachen, die in ihren Augen ein höheres Prestige besitzen. Nach NETTLE, gibt es hierfür ein klassisches Muster, das überall auf der Welt und zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte bereits gegriffen hat:
"It begins with a monolingual or nearly monolingual community. An ambitious younger generation that has contact with, or at least aspiration to, the more developed economy becomes bilingual in the language of that economy and the vernacular. [...] the third generation, then becomes monolingual in the dominant language. For them, not only has the vernacular lost its prestige in relation to the larger language, but much of the functional need for it had been attenuated by the fact that the generation above them is all bilingual. [...] the dominant language becomes primary and the vernacular is forgotten.” (a.a.O., S. 110).
Das, was SCHMIDT für das YD beobachtet hat, scheint also durchaus kein exotischer Einzelfall, sondern eher gängige Regel beim Aufeinandertreffen zweier Kulturen mit unterschiedlichen Graden an Wirtschaftskraft und Wohlstand zu sein. Sachliche Zwänge in den sich wandelnden Lebensumständen spielen eine weitere wichtige Rolle in diesem Übergang. In Regionen, die den europäischen Kolonialherren bis in die jüngste Vergangenheit hinein klimatisch oder geographisch zu ungünstig erschienen, haben sich die indigenen Sprachen länger halten können (vgl. a.a.O., S. 107).
Ähnlich erklärt auch David CRYSTAL das schnelle Ablegen der angestammten Sprache in der Kolonialisierungs- und Verdrängungssituation — einen der Hauptgründe für das Sterben von Sprachen:
"In cases where a community has been displaced, many of the survivors, unwilling or unable to remain in their habitat, find their way to population centres where they slowly lose their cultural identity within a milieu of poverty. To survive, they acquire as much as they can of a new language [...]. The ethnic language tends not to outlast a generation - if the members of that generation survive at all.”(CRYSTAL, S. 75).
Wie hier deutlich wird, ist der Wechsel von einer Sprache zur anderen durchaus nicht ganz so freiwillig, wie der Terminus voluntary language shift nahe legt, den DIXON (1997) und NETTLE (s.o.) verwenden.
Dass die kulturelle Assimilation und sprachliche Verdrängung nicht der einzige Grund für das Sterben von Sprachen ist, dürfte einleuchten. Epidemien, Hungersnöte, kriegerische Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen können insbesondere Sprachen mit extrem kleinen Sprechergemeinschaften schwer schädigen — sei es durch den Tod oder durch die Vertreibung der Sprecher (vgl. CRYSTAL, S. 72-74). Diese Faktoren sind jedoch im Falle des Dyirbal nicht relevant, weswegen ich an dieser Stelle nicht näher auf sie eingehen will.
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, warum eine Sprache stirbt: die Sprache verliert ihre Sprecher (durch die bereits in Anlehnung an CRYSTAL erwähnten Ereignisse), oder die Sprecher "verlieren" ihre Sprache — erzwungen oder freiwillig (vgl. DIXON S.107-110).
Als Ausschlaggebend für den Wandel und Niedergang des Dyirbal sind die (erzwungene) kulturelle Assimilation und der starke sprachliche Druck durch das Englische als einzige Amts-, Medien- und Schulsprache zu nennen. Als Sprache der "Überlegenen"(11) genießt sie ein ungleich höheres Prestige — ist sie doch der (vermeintliche) Schlüssel zu Erfolg und Wohlstand, so dass sich Eltern entschließen, ihren Kindern die "wertvollere" Sprache zu vermitteln.
Dass der Verlust der Sprache und Kultur der Vorfahren oftmals noch nicht einmal als ein solcher empfunden wird, zeigt nur, wie tief auch in die Köpfe der Aboriginals der Gedanke von der Überlegenheit des weißen Mannes und der Unzivilisiertheit der Ureinwohner hineinpropagiert worden ist.
Im vorliegenden Fall des Dyirbal und seiner Entwicklung, wie sie von Annette SCHMIDT beschrieben wurde, handelt es sich um das Aussterben einer Sprache im Zuge eines graduellen Austausches einer Sprache durch eine andere. Dabei eröffnet sich eine Abwärtsspirale aus geringem Prestige, das sich in mangelnder Verwendung niederschlägt, welche zum allmählichen Vergessen, Verfall und somit Abbau komplizierter Formen beiträgt, was zu "Fehlern” gegenüber der traditionellen Form führt. Dies wiederum hat negative Auswirkungen auf das Prestige der Sprache etc. pp.
Der formale Abbau zeigt sich auf allen linguistischen Betrachtungsebenen, von der Phonologie an über morphologische und syntaktische Reduktion bis hin zu semantischen und lexikalischen Phänomenen, die eindeutig als der Verfall des Dyirbal in seiner traditionellen Form gesehen werden können.
Versuche, das Dyirbal zu retten und seine Verwendung wieder zu stärken, hat es kaum gegeben. Die wenigen Ansätze im Schulunterricht scheiterten an den persönlichen Ressentiments einiger Personen in Schlüsselpositionen.
Viele Sprachen der Welt haben ein Schicksal, das mit dem des Dyirbal gut zu vergleichen ist — kulturelle Überformung aller Lebensbereiche und Verdrängung der indigenen Sprachformen sind Prozesse, die an vielen Punkten unserer Erde zum Aussterben von Sprachen geführt haben und auch weiterhin führen werden.
Zum Terminus Sprachtod möchte ich noch eine Bemerkung hinzufügen: Eigentlich müsste man in vielen Fällen korrekter vom Sprechertod reden. Denn tatsächlich tritt ein, dass es niemanden mehr gibt, der die vollkommene Kompetenz eines Muttersprachlers hat. Alles, was man danach noch findet, sind mehr oder weniger umfangreiche und authentische Fragmente bei Halbsprechern, die eine eingeschränkte bis ungenügende Kompetenz haben.
Die Sprache Dyirbal, von der wir hier sagen, dass sie stirbt, ist damit jedoch nicht völlig erloschen, sie existiert noch eine Weile als Mischsprache in Resten und in anderer Form weiter, wird aber mehr und mehr als nutzlos angesehen und nicht mehr an eine folgende Generation von Sprechern weitergegeben. Es ist also abzusehen, dass irgendwann der Zeitpunkt eintritt, an dem auch die letzten Reflexe der Sprache verloren gegangen sein werden.
Ähnlich der Diskussion zur Feststellung des menschlichen Exitus kann man auch hier je nach angelegtem Kriterium zu sehr unterschiedlichen Aussagen kommen. Und ähnlich der in vielen Religionen vorhandenen Auffassung, dass es am Menschen etwas Unsterbliches gebe, kann man auch von einer Sprache sagen, dass sie nicht gänzlich vergangen ist, sofern sie erfasst, erforscht, beschrieben und dokumentiert ist, sie also nicht gänzlich verklingt und spurlos verschwindet.
Leider scheint die Situation, dass zurzeit viele Sprachen sterben, nicht aufhaltbar oder umkehrbar zu sein. Die meisten der über 6000 Sprachen dieser Erde werden das soeben angebrochene Jahrtausend nicht überleben. NETTLE und ROMAINE gehen sogar davon aus, dass mehr als die Hälfte der heute bekannten Sprachen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ausgestorben sein werden (NETTLE/ROMAINE, S. 7).
Wenn dieser Prozess schon unaufhaltsam ist, so sollte es eine der dringlichsten Aufgaben der Linguistik sein, die Sprachen der Welt zu dokumentieren, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Die Aussagen der theoretischen Linguistik über Sprache und Sprachen allgemein basieren in der Regel auf dem Vergleich der vorfindlichen Sprachen. Viele Besonderheiten menschlicher Sprache, die nicht universellen Annahmen entsprechen, finden sich aber gerade in den "kleinen" Sprachen, die oft noch völlig unzureichend dokumentiert worden sind.
Es wäre ein unvorstellbarer Verlust, wenn die vielen noch unentdeckten Geheimnisse und das noch nicht fixierte Wissen so vieler menschlicher Sprachen unentdeckt blieben und mit den selben untergingen:
"There are 2,000 or 3,000 languages, for which we have no decent description, that will pass into disuse within the next few generations. Trained linguists are urgently needed to document them.”(DIXON (1997), S. 138).
Gefragt ist also die fundierte Dokumentation und Beschreibung der (noch greifbaren) Sprachen der Welt; basierend auf einer fundierten theoretischen und praktischen linguistischen Ausbildung:
"[..] if every linguistics student (and faculty member) in the world today worked on just one language that is in need of study, the prospects for full documentation of endangered languages (before they fade away) would be rosy. "(a.a.O., S. 137).
DIXON verurteilt aus der Perspektive des Feldforschers und Theoretikers heraus eine Linguistik, die (meist kurzlebige) Theorien um der Theorien Willen aufstellt, und die sich nicht darum schert, aktuell und tatsächlich mit den menschlichen Sprachen zu arbeiten und die Theorien an der Praxis und vice versa zu schärfen (vgl. a.a.O., S. 130-134).(12)
Wie der schnelle Untergang des Dyirbal und seiner Nachbarsprachen zeigt, ist es unentschuldbar, die "vanishing voices" (NETTLE/ROMAINE, Titel), die schwindenden Stimmen der Welt zu vernachlässigen, sie nicht vernünftig zu beschreiben und so wenigstens einen Teil von ihnen zu erhalten, wenn sie schon nicht vor ihrem Ende zu bewahren sind.
"If this work is not done soon it can never be done. Future generations will then look back at the people who call themselves 'linguists' at the close of the twentieth and beginning of the twenty-first century, with bewilderment and disdain.”
Warendorf, im Frühjahr 2001,
Jan Wohlgemuth
A | Subjekt des transitiven Satzes |
ATSI | Aboriginal and Torres Strait Islander |
C | Konsonant |
DEM | Demonstrativum (Pronomen / Artikel) |
ERG | Ergativ |
FUT | Tempusmarker Futur |
GEN1 | Genitiv 1 (aktuell) |
GEN2 | Genitiv 2 (generell) |
JE | Jambun Englisch |
NOFUT | Tempusmarker des Nicht-Futurs |
NOM | Nominativ |
NP | Nominalphrase |
O | Objekt |
PREP | (Englische) Präposition |
S | Subjekt des intransitiven Satzes |
SAE | Australisches Standardenglisch |
TD | Traditionelles Dyirbal |
V | Verb |
V | Vokal |
YD | Junges Dyirbal |
1) In den verschiedenen Schreibungen spiegelt sich das Problem wieder, den lamino-alveopalatalen Plosiv [] <dy, dj, j> und den semi-retroflexen Liquid [] <r, , rr> in einer eindeutigen aber zugleich auch praktischen und einfachen Graphie festzuhalten. [zurück zur Textstelle]
2) Eine solche Zusammenfassung erscheint den Aboriginals selbst als völlig unangebracht. Für sie sind die ca. 20% Unterschiede zwischen einzelnen Dialekten wichtiger als die Gemeinsamkeiten, da sich die verschiedenen Stammesgruppen durch die Unterschiede ihrer jeweiligen "Sprachen" identifizieren und geradezu konstituieren (vgl. DIXON (1991), S. 184). [zurück zur Textstelle]
3) Das Phoneminventar umfasst genau 17 distinktive Einheiten: 12 Konsonanten (/b/, /d/, /dj/, /g/, /m/, /n/, //, //, /l/, /r/, //), 2 Halbvokale (/w/, /j/) und 3 Vokale (/i/, /o/, /u/) (vgl. DIXON (1972), S. 37f). [zurück zur Textstelle]
4) In der Bibliographie des Ethnologue (vgl. GRIMES (1996), S. 933) findet sich jedoch zwischen "Dimmendaal" und "Doerfer" kein einziger Eintrag unter DIXONs Namen, so dass die Herkunft dieser Zahl schleierhaft bleibt. Laut Bibliographie Linguistique 1983 sind im Referenzjahr insgesamt drei Titel von DIXON erschienen. Neben Where have all the Adjectives gone? (eigtl. 1982 erschienen) sind das Searching for Aboriginal Languages - Memoirs of a field worker und der dritte Band des Handbook of Australian Languages, Hrsg. v. R.M.W. DIXON u. Barry J. Blake. In jenem dritten Band finden sich jedoch keinerlei Informationen über das Dyirbal. Vermutlich bezieht sich die Angabe also auf DIXONs Memoiren Searching for Aboriginal Languages, in denen sich einige vage Angaben im Stile von "several score speakers” zu den Sprecherzahlen der 60er und 70er Jahre finden. [zurück zur Textstelle]
5) Zur leichteren Lesbarkeit und um eine möglichst problemlose Bildschirmdarstellung zu erzielen, folge ich in der HTML-Version meines Textes weitgehend der von SCHMIDT in ihren Arbeiten (1985a und 1985b) verwendeten Schreibung des Dyirbal, da sie ohne Sonderzeichen auskommt. Die von DIXON (1972) verwendeten Zeichen werden wie folgt ersetzt:
<dj> wird zu <j>, <> wird zu <ny>,
<> wird zu <r> und
<r> wird zu <rr>
durch ein kleines griechisches Eta zu ersetzen wäre in HTML genauso problematisch wie die Verwendung einer kleinen .gif Grafik, daher habe ich dieses Zeichen nicht ersetzt.
Diese Abänderungen erleichtern zudem den Vergleich zwischen den Angaben beider Quellen. Achtung: Für die HTML-Fassung habe ich auch in den wörtlichen Zitaten die Graphie des jeweiligen Verfassers an o.a. Konvention angepasst!
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6) Um 1940 zog die letzte freie Gruppe Dyirbalan, die bis dahin unbehelligt im unwegsamen Regenwald der Berge entlang des Tully River gelebt hatte, nach Murray Upper. Nur eine einzige Frau aus dieser Gruppe war 1963 noch einsprachig — die einzige monolinguale Sprecherin, die DIXON je für das Dyirbal fand (vgl. DIXON (1991), S. 186f.). [zurück zur Textstelle]
7) Eine extrem giftige und daher berüchtigte Schlangenart. [zurück zur Textstelle]
8) Wobei zu berücksichtigen ist, dass A. SCHMIDT als Frau und Nicht-Aboriginal in ihren Tests diesen letztgenannten Bereich des Wortschatzes nicht vollends ausloten konnte. — Aus ihren informellen Beobachtungen ergab sich jedoch, dass der Wortschatz dieses Bereichs durchaus noch (auch im JE) gern verwendet wird, um vor Außenstehenden zu verschleiern, dass es um "Anstößiges" geht (vgl. SCHMIDT (1985a), SS. 169f. u. 209f.). Anscheinend waren also wohl weniger die fehlenden Kenntnisse als vielmehr gesellschaftliche Tabus und persönliche Scheu der Grund für nicht gegebene Antworten auf die Frage nach den Bezeichnungen für bestimmte Körperregionen und -funktionen (vgl. a.a.O., SS. 129 u. 169f.). [zurück zur Textstelle]
9) So weit ich es in den einschlägigen Gesetzestextsammlungen nachprüfen konnte, gibt es noch nicht einmal eine Verordnung oder gar eine Festlegung in der Verfassung, welche Sprache Staats- und Amtssprache ist, geschweige denn dass Englisch die einzige Staatssprache des Commonwealth of Australia sein soll. Hier greifen also wohl schlichtweg britisches Gewohnheitsrecht und kolonialistische Arroganz. [zurück zur Textstelle]
10) Koori ist eine Selbstbezeichnung der Aboriginals Südostaustraliens, die inzwischen in ganz Australien (auch im SAE) als politisch korrektes Synonym für Aboriginal verwendet wird. [zurück zur Textstelle]
11) Diese Überlegenheit ist sehr fragwürdig, vor allem da sie sich die Europäer selbst zuerkannt haben. Über Jahrzehntausende auf diesem Kontinent in Einklang mit der Umwelt zu überleben, muss den Weißen erst noch gelingen!! [zurück zur Textstelle]
12) Ein expliziter Vorwurf vor allem an die Schulen der GTG und Dependenzgrammatik (vgl. DIXON (1997), S. 130f., Fußnote 9.).[zurück zur Textstelle]
13) Bei diesen Texten handelt es sich um Internet-Dokumente, die nicht nach Seiten, oder eindeutigen Abschnitten untergliedert sind, so dass die Quellenangaben leider nicht präziser möglich sind. [zurück zur Textstelle]